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Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Titel: Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniil Charms
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geschrieben habe. Hier ist es: das karierte Papier und darauf in winziger Handschrift der Satz: »Der Wundertäter war von hohem Wuchs.« Ich schaute aus dem Fenster. Der Mann mit dem Holzbein ging die Straße entlang. Sein Holzbein und der Stock klackerten laut. Zwei Arbeiter und eine alte Frau lachten, sich die Seiten haltend, über den komischen Gang des Invaliden.
    Ich stand auf. Höchste Zeit! Höchste Zeit loszufahren! Höchste Zeit, die Alte in den Sumpf zu schaffen! Ich muss mir noch Geld bei dem Lokführer borgen.
    Ich trat auf den Flur und an seine Tür.
    »Matwej Filippowitsch, sind Sie da?«, fragte ich.
    »Ja«, antwortete der Lokführer.
    »Entschuldigung, Matwej Filippowitsch, sind Sie zufällig flüssig? Ich krieg erst übermorgen wieder was. Könnten Sie mir vielleicht dreißig Rubel leihen?«
    »Ja, schon«, sagte der Lokführer. Und ich hörte, wie er mit Schlüsseln klimperte und eine Schublade aufsperrte. Dann öffnete er die Tür und reichte mir einen neuen roten Dreißigrubelschein heraus.
    »Vielen Dank, Matwej Filippowitsch«, sagte ich.
    »Nicht der Rede wert, nicht der Rede wert«, sagte der Lokführer.
    Ich steckte das Geld ein und kehrte in mein Zimmer zurück.
    Der Koffer stand wie zuvor ruhig an seinem Platz.
    »Nun aber los und nicht lange gefackelt«, sagte ich zu mir. Ich nahm den Koffer und verließ das Zimmer.
    Marja Wassiljewna sah mich mit dem Koffer und rief:
    »Wohin des Wegsch?«
    »Zu meiner Tante«, sagte ich.
    »Kommen Schie bald tschurück?«, fragte Marja Wassiljewna.
    »Ja«, sagte ich. »Ich muss bloß meiner Tante etwas Wäsche bringen. Vielleicht bin ich heute schon wieder da.«
    Ich trat auf die Straße. Ich schaffte es glücklich bis zur Straßenbahnhaltestelle, den Koffer mal in der rechten, mal in der linken Hand.
    Ich stieg in den Anhänger der Straßenbahn, blieb auf der vorderen Plattform stehen und winkte der Schaffnerin, zu mir nach vorn zu kommen und für das Gepäck und den Fahrschein zu kassieren. Ich wollte nicht, dass mein einziger Dreißigrubelschein durch den ganzen Wagen weitergereicht wurde, und konnte mich auch nicht entschließen, den Koffer stehen zu lassen und selbst zur Schaffnerin durchzugehen. Die Schaffnerin kam zu mir nach vorn und erklärte, sie habe kein Wechselgeld. An der ersten Haltestelle musste ich wieder aussteigen.
    Wütend stand ich da und wartete auf die nächste Straßenbahn. Ich hatte Bauchweh, und meine Beine zitterten leicht. Plötzlich erblickte ich meine nette junge Dame: Sie überquerte die Straße und sah nicht in meine Richtung. Ich griff mir den Koffer und stürmte ihr nach. Ich wusste nicht, wie sie heißt, und konnte sie nicht rufen. Der Koffer behinderte mich fürchterlich: Ich hielt ihn mit beiden Händen vor mir und stieß mit Bauch und Knien ständig dagegen. Die nette junge Dame lief ziemlich schnell, und ich spürte, ich würde sie nicht einholen können. Ich war schweißgebadet und völlig ausgepumpt. Die nette junge Dame bog in eine Gasse ein. Als ich die Straßenecke erreicht hatte, war sie nicht mehr zu sehen. »Verdammte Alte!«, zischte ich und schmiss den Koffer hin. Die Ärmel meiner Jacke waren vollkommen durchgeschwitzt und klebten mir an den Armen. Ich setzte mich auf den Koffer, zog ein Taschentuch hervor und wischte mir damit über Hals und Gesicht. Zwei Bengel bauten sich vor mir auf und starrten mich an. Ich machte ein ruhiges Gesicht und sah unverwandt zur nächsten Toreinfahrt hinüber, als wartete ich auf jemanden. Die Bengel tuschelten und zeigten mit Fingern auf mich. Rasende Wut schnürte mir die Luft ab. Ach, wie gern würde ich sie in einen Starrkrampf versetzen!
    Und wegen dieser Rotzbengel stehe ich schließlich auf, nehme den Koffer, gehe damit zu der Toreinfahrt und schaue hinein. Ich mache ein erstauntes Gesicht, ziehe meine Uhr heraus und zucke die Achseln. Die Bengel beobachten mich von Weitem. Ich zucke noch einmal die Achseln und schaue in die Toreinfahrt.
    »Merkwürdig«, sage ich laut, nehme den Koffer und schleppe ihn zur Straßenbahnhaltestelle.
    Fünf Minuten vor sieben komme ich am Bahnhof an. Ich nehme eine Rückfahrkarte nach Lissi Nos und steige in den Zug.
    Im Wagen sind außer mir noch zwei: Der eine, offenbar ein Arbeiter, ist müde, hat die Schirmmütze über die Augen gezogen und schläft. Der andere, ein noch junger Bursche, ist angezogen wie ein Dorfgeck: Jackett und rosa Russenkittel, unter der Schirmmütze guckt eine Lockentolle hervor. Er raucht eine Papirossa,

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