Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)
wohin. Genauso ist es auch mit dem Album: Man schmiert irgendwas rein, und dann kann man es nicht mehr ändern.
Charms
23. August 1936
(1)
Meine Meinung übers Reisen in Kürze: Wenn man reist, sollte man nicht allzu weit wegfahren, sonst sieht man womöglich irgendetwas, das man später nicht wieder vergessen kann. Wenn etwas zu hartnäckig im Gedächtnis haften bleibt, dann ist einem das zunächst nicht geheuer, und dann fällt es einem sogar schwer, den Lebensmut nicht zu verlieren.
(2)
Hier ein Beispiel: Ein Uhrmachermeister, Gen. Badajew, konnte einen Satz nicht vergessen, den er irgendwann mal gehört hatte: »Wenn der Himmel schief wäre, würde er deswegen nicht niedriger.« Gen. Badajew konnte mit diesem Satz nichts anfangen, er ärgerte sich darüber, er fand den Satz unvernünftig, sogar ohne jeden Sinn, schädlich gar, denn er enthielt eine offensichtlich unrichtige Behauptung (Gen. Badajew spürte, dass ein Physiker, der was von seinem Fach verstand, etwas zur »Höhe des Himmels« sagen könnte und die Aussage »der Himmel ist schief« nicht durchgehen lassen würde. Gen. Badajew wusste, wenn dieser Satz Perlmann unterkäme, dann würde Perlmann den Sinn dieses Satzes in tausend Stücke zerreißen, so wie ein junger Hund Pantoffeln in Stücke reißt), die normalem europäischem Denken klar zuwiderlief. War aber die Behauptung in diesem Satz wahr, dann war sie zu unwichtig und belanglos, um überhaupt darüber zu reden. Jedenfalls hätte er diesen Satz, den er vor langer Zeit mal gehört hatte, sofort wieder vergessen müssen. Aber genau das gelang ihm nicht: Gen. Badajew dachte permanent an diesen Satz und litt schwer darunter.
(3)
Für den Menschen ist es von Vorteil, nur das zu wissen, was er wissen soll. Als Beispiel kann ich folgenden Fall anführen: Ein Mensch wusste etwas mehr, und ein anderer etwas weniger als das, was er sollte. Und? Derjenige, der etwas weniger wusste, wurde ein reicher Mann, derjenige aber, der etwas mehr wusste – musste sich sein Leben lang mit dem Nötigsten begnügen.
(4)
Seit ewigen Zeiten denken die Menschen darüber nach, was Klugheit und was Dummheit ist. Das erinnert mich an folgen de Episode: Als meine Tante mir einen Schreibtisch schenkte, sagte ich zu mir: »Auf geht’s, du setzt dich jetzt an diesen Tisch, und als Erstes formulierst du einen besonders klugen Gedanken.« Doch einen besonders klugen Gedanken vermoch te ich nicht zu formulieren. Da sagte ich mir: »Gut. Es ist mir nicht gelungen, einen besonders klugen Gedanken zu formulieren, dann formuliere ich eben einen besonders dummen.« Doch auch einen besonders dummen Gedanken konnte ich nicht formulieren.
(5)
Etwas Extremes zu tun, ist immer sehr schwierig. Das Mittlere lässt sich leichter erledigen. Mitten im Zentrum sind keinerlei Anstrengungen erforderlich. Zentrum – das bedeutet Gleichgewicht. Da gibt es keinerlei Kampf.
(6)
Soll man aus dem Gleichgewicht geraten?
(7)
Bist du auf Reisen, gib dich keinen Träumen hin, sondern fantasiere und achte auf alles, selbst auf Kleinigkeiten.
(8)
Wenn man sitzt, soll man nicht mit den Beinen baumeln.
(9)
Jede Weisheit ist gut, sofern sie jemand verstanden hat. Eine nicht verstandene Weisheit kann verstauben.
(10)
Da war ein rothaariger Mann, der keine Augen und Ohren hatte. Er hatte auch keine Haare, so dass er nur unter Vorbehalt rothaarig genannt werden konnte.
Sprechen konnte er nicht, denn er hatte keinen Mund. Eine Nase hatte er auch keine.
Er hatte nicht mal Arme und Beine. Und er hatte keinen Bauch und keinen Rücken und kein Rückgrat und keinerlei Eingeweide. Überhaupt nichts hatte er! So dass man nicht weiß, um wen es sich handelt.
Am besten also, wir sprechen nicht weiter über ihn.
7. Januar 1937
(11)
Eine Großmutter hatte nur noch vier Zähne im Mund. Drei oben und einen unten. Kauen konnte die Großmutter mit diesen Zähnen nicht. Im Grunde genommen nutzten sie ihr gar nichts. Und da beschloss die Großmutter, sich alle Zähne ziehen zu lassen. In den Unterkiefer sollte man ihr einen Korkenzieher einsetzen, in den Oberkiefer eine kleine Zange. Die Großmutter trank Tinte, aß Steinkraut, und die Ohren putzte sie sich mit Streichhölzern. Die Großmutter besaß vier Hasen. Drei Hasen oben und einen Hasen unten. Die Großmutter fing die Hasen mit den Händen und quetschte sie in kleine Käfige. Die Hasen weinten und kratzten sich mit den Hinterläufen am Ohr.
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