Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)
mag?
(22)
Gefallen auf des Lebens Feld.
Keine Hoffnung mehr, noch Geld.
Aus, vorbei der Traum vom Glück.
Nur noch Armut bleibt zurück.
3. April 1937
(23)
Allein Verstand und Talent zu besitzen, ist zu wenig. Man braucht dazu noch Energie, echtes Interesse, Reinheit des Denkens und Pflichtgefühl.
(24)
Ich schreibe hier die Ereignisse des heutigen Tages nieder, denn sie sind erstaunlich. Richtiger: Ein Ereignis ist besonders erstaunlich, ich werde es unterstreichen.
1) Haben gestern überhaupt nichts gegessen. 2) Am Morgen 10 Rubel von der Sparkasse geholt, dabei 5 auf dem Sparbuch gelassen, um das Konto nicht auflösen zu müssen. 3) Bei Schitkow vorbeigegangen, von ihm 60 Rubel geliehen. 4) Nach Hause gegangen, unterwegs Lebensmittel eingekauft. 5) Wetter war schön, frühlingshaft. 6) Mit Marina zur buddhistischen Pagode gefahren, Tasche mit belegten Broten und Feldflasche mit verdünntem Rotwein mitgenommen. 7) Auf dem Rückweg im An- und Verkauf vorbeigeschaut und dort ein zweimanualiges Schiedmayer-Harmonium gesehen, eine Kopie des Harmoniums in der Philharmonie. Für schlappe 900 Rubel! Aber vor einer halben Stunde verkauft worden! 7a) Bei Alexander prächtige Pfeife gesehen. 85 Rubel. 8) Zu Schitkow gegangen. 9) Mit Schitkow herausgefunden, wer das Harmonium gekauft hat, dann zu der Adresse gefahren: Pessotschnaja 31, Whg. 46, Lewinski. 10) Versuch, es abzukaufen, fehlgeschlagen. 11) Verbrachten Abend bei Schitkow.
4. April
»Buddhistische Pagode«: ein zwischen 1909 und 1915 errichteter Tempel auf dem Primorski Prospekt in Leningrad.
(25)
Schluss mit Müßiggang und Untätigkeit! Schlag jeden Tag dieses Heft auf und schreib nicht weniger als eine halbe Seite hinein. Wenn es nichts zu schreiben gibt, dann schreib wenigstens, Gogols Rat gemäß, dass es mit dem Schreiben heute nicht geht. Schreibe immer mit Interesse und betrachte das Schreiben als Fest.
11. April 1937
(26)
Fonarjow war überraschend zu Reichtum gekommen. Auf einmal war es ihm möglich, sich gut zu kleiden, sein Zimmer zu renovieren, es mit teuren, im An- und Verkauf erstandenen Sachen einzurichten, und trotzdem blieb ihm noch genug Geld, um jeden Tag in einer guten vegetarischen Kantine zu essen und abends in einem kaukasischen Imbiss zu sitzen, bis der Feierabend machte. Als Fonarjow noch ein armer Mann war, hatte er viele Freunde. Es gab Tage, an denen Fonarjow nichts zu beißen hatte. Dann ging er zu seinem Freund Rubanow, und Rubanow tischte ihm fast immer etwas auf. Dafür kam es auch vor, dass Rubanow hungrig bei Fonarjow auftauchte. Wenn der auch nichts da hatte, gingen sie gemeinsam zu Wejtel, und Wejtel gab ihnen was zu essen. Wenn auch Wejtel nichts da hatte, trabten sie zu dritt zu Minajew (einem Verwandten des bekannten Dichters). Aber Minajew hatte beinahe nie Geld. Dafür war er Besitzer einer Bibliothek, die er von seinem berühmten Verwandten geerbt hatte.
(27)
So beginnt der Hunger:
Am Morgen erwachst du munter,
Dann beginnt die Mattigkeit,
Dann beginnt die Langeweile;
Dann setzt das Nachlassen
Des raschen Denkvermögens ein, –
Dann setzt die Ruhe ein,
Und dann beginnt der Horror.
<1937>
(28)
Das Träumen bringt dich noch ins Grab.
Am harten Leben das Interesse
Wie Rauch verflüchtigt sich. Und doch
Kein Himmelsbote kommt geflogen.
Leidenschaft und Wünsche werden klein,
Der Jugend feurige Gedanken geh’n vorbei …
Lass sein das Träumen, Freund, lass sein,
Vom Tode den Verstand befrei.
4. Oktober 1937
(29)
Ein Tag
(Amphibrachys)
Und Fischlein schwimmen im kühlenden Strom.
Und fern ein Häuschen wartet schon,
Und Hunde bellen die Kuhherde an,
Und Petja fährt im Karren bergan,
Und Fähnchen flattern am Häuschen im Wind,
Und Korn auf den Äckern reift geschwind,
Und Staub glitzert silbern auf jedem Blatt,
Und Fliegen summen am Fenster matt,
Und Mädchen liegen gewärmt von der Sonne,
Und Bienen im Garten summen vor Wonne,
Und Gänse tauchen in schattigen Teichen,
Und unsere Tage in Arbeit verstreichen.
25./26. Oktober 1937
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Vorfälle
Marina Wladimirowna Malitsch* gewidmet
Von Charms gestaltetes Titelblatt zu seinem Manuskript der »Vorfälle« 1930er Jahre
* Marina Malitsch, verh. Durnowo (1909–2002) war die zweite Ehefrau von Charms.
Von Charms gestaltetes Inhaltsverzeichnis zu seinem Manuskript der »Vorfälle« 1930er Jahre
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Das himmelblaue Heft, Nr. 10
Da war ein rothaariger Mann,
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