Trips & Träume
und Tagesspiegel gearbeitet Die Sätze in seinen Artikeln hatten die Kürze eines Andrew Vachss, die Würze von Bukowski und den gewissen intellektuellen Scharfsinn. Er war eine Edelfeder. Er konnte in Bildern schwelgen, ohne jedoch Klischees bemühen zu müssen. Seine Kritiken – sie hingen wochenlang im Aushang des Schauspiels und wurden in Programmheften zitiert – waren unter Regisseuren und Schauspielern eine heißbegehrte Ware. Und oft waren sie auch gefürchtet. Wenn ihm etwas nicht gefiel, konnte er es dezidiert begründen. Die Intendanten riefen ihn an, besorgten ihm Interviews, die sonst niemand bekam, oder luden ihn zur Generalprobe ein.
Sich mit einer Sache niemals gemein zu machen, selbst wenn sie noch so gelungen, gut und wichtig war – so objektiv wie möglich berichten, das war sein Credo. Ein Journalist habe immer Abstand zu wahren, dürfe sich nicht in die Dinge hineinziehen lassen. Nur so könne er zu einem Urteil gelangen, das auf sicheren Beinen stehe.
Mit ihm musste ich reden, bevor ich loslegte und womöglich etwas Unüberlegtes tat.
Der Vibrationsalarm brachte das Handy auf dem Tisch zum Tanzen.
»Endlich erreiche ich dich, wo hast du die ganze Zeit über gesteckt? Und warum meldest du dich nicht, wenn ich auf deine Mailbox spreche?«
Mila in voller Fahrt. Ruhe bewahren und kein Streit. Warum war ich sofort voller Schuldgefühle?
»Ich war auf einer Beerdigung und habe dort alte Bekannte getroffen. Anschließend sind wir noch was essen und trinken gegangen«, sagte ich.
Sie ging nicht darauf ein. »Ich fliege morgen runter nach Banda Aceh. Ich gehe nachher noch schnell in die Wohnung und packe. Ich weiß nicht, wie lange ich weg bin, das kann dauern. Ich rufe an, so oft ich kann.«
Ich spürte, ich würde sie nicht davon abhalten können. Ihre Entscheidung war gefallen, und ich gab mich geschlagen. »Da unten gibt es Rebellen. Pass auf dich auf, okay?«
»Gib mir mal Maja, damit ich ihr erklären kann, wo sich ihre Mama in der nächsten Zeit rumtreibt.«
neunzehn Lonely at the Top
Mila blieb sechs Wochen in Indonesien.
Im lokalen Anzeigenblättchen, das in der Küche herumlag, hatte ich eine Ankündigung für »Ritter Rost« entdeckt, ein Kindermusical. Damit es Maja nicht langweilig wurde, wohl aber auch, um mich ein wenig abzulenken, ging ich mit ihr in die Aufführung, die für nachmittags angesetzt war. Maja war sofort begeistert von dieser Idee, natürlich musste Flat Eric, ihre Stofffigur, mit. Es war das erste Mal, dass ich mit ihr zu so etwas ging, und als die Lieder erklangen, die sie aus der »Sendung mit der Maus« kannte, ließ sie kein Auge vom Geschehen auf der Bühne.
Die Ablenkung hielt nicht lange vor. Die Flutwelle und ihre Mama, die im Katastrophengebiet war, ließen sie nicht los. Als die »Tagesschau« lief, setzte ich mich zu ihr – sie hockte auf dem Boden vor dem Fernseher in Huguettes Wohnzimmer –, um ihr zu erklären, was sie da sah, und ihr zu antworten, falls sie Fragen dazu haben sollte.
Doch wie sollte ich ihr das erklären? Wenn wir Erwachsenen schon nicht verstanden, was da vor sich ging, wie sollte ein vierjähriges Mädchen damit klarkommen? Vielleicht besser als ich.
»Papa, wo ist Indonesien?« Maja zeigte auf den Fernseher. Eine Karte des Indischen Ozeans war zu sehen. Ich stand auf und klopfte auf die Scheibe. »Hier, mein Schatz, hier ist Indonesien«, sagte ich.
»Und was macht Mama da?«
»Sie arbeitet als Reporterin. Die fahren dorthin, wo aufregende Dinge passieren, und nehmen das auf Film auf. Und dann wird es gesendet, das heißt, du kannst es dann sehen. So wie jetzt.«
»Dann kommt Mama ins Fernsehen und wird berühmt.«
Huguette räumte das Abendessen ab. »Wolltest du nicht noch arbeiten?«
Ich zog mich in mein altes Dachzimmer zurück, das jetzt als Gästezimmer diente, packte das Diktaphon aus und hörte es ab. Auf dem Laptop blinkte der Cursor und wartete auf meine Eingabe. Nichts wollte mir einfallen, obwohl ich bis Ende der Woche liefern musste. Ich stellte alles in Frage, von dem ich geglaubt hatte, dass es mein Berufsethos und mein journalistisches Selbstverständnis ausmachte.
Seit ich als Freier mein Brot verdiente, hatte ich mich aufs Auftragsschreiben verlegt. Warum? Ein Interview mit Jon Bon Jovi (genau jenes, das ich noch zu schreiben hatte) ließ sich öfter verkaufen als eine Geschichte über Animal Collective. Diese junge amerikanische Band hatte ich bei einem ihrer wenigen Deutschlandauftritte im
Weitere Kostenlose Bücher