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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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und hingezimmert und schlussendlich sah alles wieder ähnlich trist aus wie schon vor der Zerstörung. Was aber in die Leute hineinzementiert zu sein schien, war die Tatsache, dass die Gebäude und Zäune und Garagen und all die anderen Dinge diesmal länger halten sollten. Man hatte immer noch das allgegenwärtige Gefühl von Feindschaft und war doch eigentlich nur ein am Boden der Totsachen angekommenes, zerstörtes Volk. Aufgewühlt wie Kinder, die mit heraushängenden Därmen vom Spielplatz der Geschichte kommen, weil sie zu viel riskiert haben.
    In dieser leicht euphorischen Nachkriegszeit lernten sich Ingeborg und Hermann auf einer Tanzveranstaltung kennen. Eine Musikkapelle spielte Sentimentales, Beschwingtes und Fröhliches, und es gab was Bier und was Bratschwein. Ein feines, deutsches Fest, und die Jugendlichen waren alle auf der Suche nach was zum Festhalten. Die Wirren des Krieges noch im Kopf, tanzten die Leute, als hätte es kein Drittes Reich gegeben, sondern nur eine Zeit, in der man nicht tanzen durfte. Hermann stand herum auf diesem Fest, er war nicht kriegsversehrt, und er sprach mit wem über eine Zukunft, die er haben wollte, die groß und golden und voller Hoffnung zu sein hatte. Er stand neben einem, dem ein Unterarm fehlte und dessen Gesicht eine Schussverletzung entstellte, und man sprach über Gewissheit und dass sie irgendwie noch fehlen würde. Der Einarmige war stark angetrunken und hatte etwas im Blick, was Ingeborg in genau so einem Gesicht auch vermuten würde, und Hermann stand daneben, als sie zufällig vorbeilief. Ihre Augen trafen sich, so wie sich zufällige Augen trafen, und das Fest ging einfach weiter. Das Fest derer, die was zum Festhalten suchten.
    Am Ende dieser ganzen Veranstaltung, als der Einarmige vor dem Scheuentor lag und sich in einem See aus Fleischerbrochenem nicht mehr rührte, fasste sich Ingeborg ein Herz und den Hermann an die Hand und zog ihn stolpernd auf die Tanzfläche, und sie tanzten zu einer Musik, die betrunkene Musiker aus den Weiten des Walzers und einer unangenehmen Sorte Foxtrott hervorzauberten. Ingeborg und Hermann wirkten wie zwei, die übrig geblieben sind. Wie diese typischen Deutschen zu dieser Zeit, die einfach was zum Festhalten brauchten, damit der Himmel über ihnen Ruhe gibt und der Boden unter ihnen nicht dauernd in Flammen steht. Ob es Liebe war, hat damals keiner gewusst, aber beide fühlten die Angst, übrig zu bleiben, und so hielten sie einander fest.
    Es wurde Konstanz, nicht sofort, aber auf die Dauer. Konstanz kann immer nur von Dauer kommen, und sie kam und blieb und rührte einen unsichtbaren aber ernst gemeinten Klebstoff zwischen die beiden, und sie ließen es zu, dass sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl einstellte. Damit lebten sie und gingen einen Weg, den viele damals gingen. Mietwohnung, Überleben durch Arbeit, der Versuch, sich während des Vergehens des Alltags nicht umzubringen, Verständnis aufbringen, manchmal »Ich liebe Dich« sagen, dem Einklang klaglos beiwohnen.
    Etwas dünner wurde die Beziehung, als ein Kind her sollte. Schwangerschaftsveranlassende Maßnahmen gab es haufenweise, zärtliche, brutale, schöne, dumme, schlimme, zwischendurche, geplante und einige Weh- und Schwermut hinterlassende. Alle blieben erfolglos. Während der vielen Versuche, auf diesem Schlachtfeld der Unfähigkeit eine Schwangerschaft anzubahnen, blieben einige Gefühle auf der Strecke, die Ingeborg und Hermann aber anschließend gar nicht mehr vermissten. »Tja, so ist es eben«, war ohnehin einer von Hermanns Lieblingssätzen, denen Ingeborg stets stumm beipflichtete. Beipflichten war ohnehin so eine Sache in Ingeborgs Eheleben. Zum Entwickeln einer wirklich relevanten eigenen Meinung war sie zu passiv, ihre Einstellung glich in fast allen Belangen der Einstellung Hermanns, welcher seinerseits seine Meinungen von Arbeitskollegen überoder stark illustrierten Tageszeitungen entnahm.
    Die Liebe, die in diesem Stall der Bürgerlichkeit Gewohnheit hieß, blieb auf einem aushaltbaren Level einfach stehen, und das Leben ging ohne Kind in die Verlängerung, und Zeit floss in einer Gleichgültigkeit an Ingeborg und Hermann vorbei und machte sie nicht voller. Niemand hatte geplant, so zu werden, wie sie geworden sind, aber es war ihnen auch nicht weiter wichtig, wie sie geworden sind, denn die Hauptsache war, sie waren überhaupt irgendwer. Überhaupt irgendwer zu sein, darum ging es ihnen, nicht im Ozean der Überbevölkerung zu

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