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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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liegt dann diese dumme Stoffhose, dieses karierte Hemd, das viel zu klein ist, und dieser farblose Pullover, der selbst für Blinde eine Geschmacksbeleidigung darstellt, denn Roy denkt, man könne diesen Pulli spüren, man könnte fühlen, dass er scheiße aussieht. Roy zieht all das an, zuletzt die Socken, immer die Socken zuletzt, das hat er irgendwo gelernt, und das geht seitdem nicht mehr weg.
    Als er die Küche betritt, kommen da Schlagermusikbeiträge in erstaunlicher Morgenfröhlichkeit an Roys Ohr gerauscht, und sein Vater verbirgt sich hinter der Zeitung, während seine Mutter gestresst an der Küchenanrichte wirkt. Auf seinem Platz steht bereits, wie jeden Morgen, sein Frühstück. Da hat es eine Scheibe Brot mit einer Wurstscheibe darauf, die ein Gesicht hat, und dieses Gesicht grinst Roy jeden Morgen an, und er hasst das Gesicht, er hasst den Geschmack dieser Wurst, und auch das dumme Brot hasst er, aber er setzt sich hin und beginnt, langsam und bedächtig kleine Happen vom Hassbrot abzubeißen. Neben dem Teller steht eine warme Tasse Kakao. Nach jedem vierten Bissen trinkt Roy einen Schluck, und wenn er das tut, so weiß er, ist er immer eher mit dem Brot als mit dem Getränk fertig. Die Mutter dreht ihm immer noch den Rücken zu, und Roy weiß, was sie denkt, er spürt ihre unausgesprochene Anklage durch ihr Schweigen hindurch. Er selbst wird dadurch unsicher, ob es sich bei seiner Egozärtlichkeit wirklich um eine Sünde oder dergleichen handelt. Roy wünscht sich Liebe und erhält stummdummes Schweigen, das Schweigen der Familie, die so beschäftigt tut, dass er unsicher, fast sogar unsichtbar wird. Das ist die Diskrepanz, die diese Familie für Roy so bedrohlich macht. Einerseits das völlige Übernehmen von Dingen, die er selbst kann, und das totale Aufdiktieren eines Geschmacks und andererseits ein eigenartiges Desinteresse an seinen Gefühlen und an seiner Persönlichkeit.
    Er kennt sich aus mit Schmerzen, weiß Roy, ja, damit kennt er sich definitiv aus, und das, obwohl er sich noch nie was gebrochen, er sich noch niemals ein Körperteil unabsichtlich frittiert oder ihn ein wildes Tier angefallen hat. Wäre so was schon mal passiert, wäre der Schmerz ein sichtbarer, aber so wie Roy die Lage derzeit beurteilt, wird der Schmerz immer irgendwo unsichtbar unter irgendeiner Oberfläche brodeln. Da sind keine offenen Wunden an Roys Haut, aber unterhalb dieser Haut spielen sich Dinge ab, die sich manchmal wie durch Eingeweide getriebene Mixer anfühlen.
    Unter der Haut seiner Mutter, so weiß Roy, da findet auch Schmerz statt, man sieht es häufig an ihren irren Blicken, die derart mit Traurigkeit ausgeschmückt sind, dass sich Roy, sobald diese Blicke ihn treffen, auf einer ewigen Beerdigungsfeier wähnt. In diesen Blicken finden aber ebenso aggressive Anklage, allgemeiner Weltschmerz und etwaiges Desinteresse am Leben anderer statt. Seinen Vater nimmt Roy als nahezu mimiklos war. Sehr häufig starrt er stundenlang irgendetwas an, was Roy nicht sehen kann. Irgendetwas, was wohl im Raum schwebt und den Vater derart fasziniert, dass er den Blick davon nicht lassen kann.
    In seiner Kindheit, so erinnert sich Roy kauend mit dem verhassten Wurstbrot zwischen den Fingern, da war die Welt noch ein wenig stabiler, die Eltern relativ freundliche, vor allem aber irgendwie ungefährliche Erwachsene, die versuchten, ihm Dinge beizubringen, was mal klappte, meist aber scheiterte. Irgendwann spürte er dann diese Verzweiflung, die in seine Eltern kam, die Verzweiflung, ein behindertes Kind zu haben, das lernresistent und leicht dümmlich und vor allem stumm durch die Welt gehen musste. Der Vater gewöhnte sich irgendwann an Roys Grenzen, deren Übertreten ihm seine Genetik unmöglich machte. Die Mutter hingegen rieb sich daran auf, wollte die Behinderung nicht akzeptieren, wollte einen gewöhnlichen Sohn mit Abiturfähigkeit haben und nicht so einen mit dicker Zunge und flachem Kopf, in dem nur Dummheit stattfand. Und da sie nicht wusste, wer dafür verantwortlich war, dass Roy eine geistige Behinderung aufwies, so versuchte sie, den Schmerz umzuverteilen. Das meiste behielt sie selbst, einen Bruchteil gab sie immer wieder an Roy und an ihren Mann ab. Sie weinte dann viel, und Roy wusste zunächst nicht warum, erkannte dann aber, dass die Traurigkeit der Mutter ihm gewidmet war.
    Das Frühstück ist gegessen und ein weiteres Wurstbrot wird dem Roy von seiner Mutter ausgehändigt, das er in seine Anoraktasche

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