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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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verschwinden, aber auch auf keinen Fall so auffällig erscheinen, dass jemand Fragen stellt.
    »Unser Leben ist so schön normal«, sagte Ingeborg manchmal, wenn sie am Tisch saßen und aßen, und Hermann nickte entweder, wenn er Nahrung im Mund hatte, oder er sagte: »Tja, so ist es eben.« So tropfte die Zeit also zäh durch die Jahre, und die Vielzahl der Möglichkeiten, diesem einen Leben mehr Potential abzugewinnen, blieben alle ungenutzt. So bürgerlichten sie dahin, bis, ja bis Hermanns Kopf in die Suppe fiel, und seitdem ist das Leben für Ingeborg eine gottverdammte Unsicherheit.
    Ingeborg sitzt am Abend viel allein auf dem Sofa, auf dem sie sonst immer und jeden Abend mit Hermann gesessen hatte, und denkt nach. Da kommen dann all die Weggabelungen in ihren Kopf, wo man dieses eine Leben hätte anders gestalten können. Den Wohnort wechseln, ein anderer Mann, ein anderes Leben, all das hat Ingeborg nie gemacht, und jetzt sitzt sie da und bedauert das nicht einmal. Zu fest sitzen die Fesseln der Gewohnheit, und Hermann atmet im Pflegebett leise seine letzten Atemzüge. Tja, so ist es eben …
    Die Akzeptanz der Dinge, dieses Müdewerden an den Dingen, die einen müde machen wollen, und dann die Diskrepanz zwischen dem Wissen, dass es nur noch bergab geht, und dem Verhalten, dass man so tut, als mache einem das gar nichts aus, am eigenen Leib zu spüren, das muss hart sein, erkennt Gott an. Aber auch bei den Leuten verändert sich nichts durch die Anerkennung der Scheiße, die sie umgibt, nein, da tut sich nichts durch die bloße Akzeptanz dessen, was einen kaputt macht, außer, dass man vielleicht schneller kaputt geht und immer trauriger wird von der Beschleunigung des Kaputtgangs. Die Herzschläge, die den Menschen zustehen, die sind begrenzt, weiß Gott. Angefangen beim ersten, aufgehört beim letzten, und dazwischen passiert das, was die Leute dann ihr Leben nennen. Im eng gestrickten Zwischenraum zwischen Geburt und Tod gilt es also möglichst viel Leben aus seiner Existenz herauszupressen. Und da kommt dann das so genannte Individuelle ins Spiel. Manche erfreuen sich an Macht, die andere bereits an einem kleinen Platz im Schatten, in dem man sie in Ruhe lässt. Wieder andere graben Löcher oder bauen Türme, deren Nutznießer sie selbst nie sein werden, und halten auch das für Erfüllung. Ganz andere stecken ihre Genitalien in Tiere oder Friteusen und freuen sich über Grunzen oder Zischen. So verschieden ist der Mensch.
    Tja, so ist das eben, denkt Gott und freut sich ein wenig an sich und der von ihm installierten Ewigkeit.

Das bekommt man mit psychischer Gewalt ganz leicht korrigiert
    Das Erwachen wie ein siamesischer Zwilling. Haut an Haut. Es sind die Oberarme, die ganz konkret beieinander liegen, verwachsen erscheinen, als wären sie die allerbesten Freunde. Ihr Arm und sein Arm, von ähnlich nobler Blässe. Weiß. Die Bettwäsche bedeckt nur noch die Beine, es ist warm, Roy schwitzt, aber es stinkt nicht, denn ein Geruch tritt heran, der eine Mischung aus Sommerwiese und frisch gemähtem Rasen verspricht. Von irgendwo treten Sonnenstrahlen in den Raum hinein und geben der Atmosphäre etwas Göttliches. Man meint Fanfarenmusik zu hören, wenn man nur diese beiden Oberarme und diese kitzelnden Sonnenstrahlen sieht. Fanfarenmusik, jawohl, Fanfarenmusik.
    Es klebt die Haut vom Schlafschweiß, der sich zwischen ihnen gebildet hat, und über Roys Wange liegen rote, lange Haare, und sie hat die Augen noch geschlossen. Roy traut sich kaum, sie anzusehen, so schön ist sie, so absolut pervers schön. Aber er schaut doch, saugt das Bild in sich auf, lädt es sich auf die Festplatte; das Gesicht, die Haare, die feinen Krümel Schlafbrocken, die auf ihren Lidern liegen, und die Zwangsjackenschönheit der Liebe summieren sich zu einem unaushaltbaren Gefühl, das Roy jetzt ganz erfüllt. Das Gefühl wächst aber weiter und sprengt Roys Grenzen, und jetzt weiß er, wie es sich anfühlt, wenn einem Sonnenschein aus dem Arschloch gleitet. Vielleicht kommen all die Sonnenstrahlen, die sich hier im Raum aufhalten, tatsächlich aus Roys Arsch. Aber diese Frage ist jetzt nicht mehr relevant. Mit letztmöglicher Zärtlichkeit küsst er das Mädchen, das rhythmisch atmend weiterschläft. In ihr findet wohl ein Ponytraum statt, Ausreiten am Strand oder dergleichen, zumindest lässt ihr geschmeidiger Gesichtsausdruck darauf schließen. Roy küsst den Mund des Mädchens und umarmt sie, um sie an ihn zu drücken. Dabei

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