Trisomie so ich dir
erwacht das Mädchen, und dann geht alles sehr schnell. Blicke. Herzbeschleunigung. Die Atemfrequenz des Mädchens und Roys versuchen sich auf eine Geschwindigkeit zu einigen, die aber nie zusammenpasst.
Und plötzlich und unerwartet: Die Anwesenheit weiblicher Nacktheit. Alle Hände überall. Das Mädchen auf Roy, unter Roy nur noch das Laken, das sich rhythmisch zusammenzieht, um sich anschließend wieder zu raffen, und Roy selbst rafft nur noch das Glück, jetzt hier an diesem Ort sein zu dürfen, und er fühlt sich wie unter Wasser in einem warmen und klaren See, allerdings mit der Fähigkeit ausgestattet, dort regulär atmen zu können. Alles um ihn ist weich, außer seiner eigenen Mitte, die ist von einer gusseisernen Härte und ready to take off. Er bohrt sich in ihr weiches, nasses Fleisch, das ihn vor Lust hüpfend begrüßt. Die Bewegungen, die Roy mit dem rothaarigen Mädchen tanzt, wirken, als handele es sich bei den beiden um eine einzige Person, eine einzige Person, die danach strebt, sich die besten aller Gefühle reinzuziehen und diese Person ist auf dem Weg und …
»Hör sofort damit auf, du Ferkel«. Die Party ist zuende. Roys Mutter steht in der Tür, in ihren Augen diese Mischung aus Panik und Desinteresse. Panik, weil sie immer dachte, dass ein gefühlter Unterleib an ihrem Sohn nicht existent ist, und Desinteresse hat sich als allgemeines Grundgefühl etabliert. Sie schreit noch einmal schrill, was klingt wie eine Mixtur aus Bedrohung und Angst. Wie ein in die Enge getriebenes, angeschossenes Scheißtier. Pädagogische Maßnahmen wie diese müssen sich manchmal für den Empfänger anfühlen, als ob dieser bis an die Zähne mit Angst bewaffnet zu sein hat. Das denkt die Mutter, und Roy liegt da, als sei er eben gestorben. Die Hysterie der Mutter verwandelt das rothaarige Mädchen wieder in das Kopfkissen, das sich Roy mit weit zugepressten und realitätsverwehrenden Schlafaugen und in seiner Fantasie gefangen rhythmisch durch den Schritt reibt. Er erstarrt, die Mutter atmet einfach nur hörbar, ist traurig und wütend darüber, ein krankes Kind zu haben, und allein dieser Satz, so weiß die Realität zu berichten, enthält schon zwei Lügen, denn Roy ist weder krank noch ein Kind. Das weiß Roy und das weiß die Mutter, aber die Mutter kämpft um ihre Funktion als Mutter, denn wäre dieser Junge plötzlich ein eigenständig handelndes Individuum, mit eigenen Emotionen gar, was sollte sie ihm dann noch zeigen, wovor sollte sie ihn noch beschützen. Also hält sie ihn klein, den Roy, den in ihren Augen ewig Fünfjährigen.
Und die Mutter atmet Schuldzuweisungen aus und fügt ein beiläufig hilfloses »Gleich gibt’s Frühstück, beeil dich, Junge« hinzu, dreht sich um, geht aus dem Türrahmen und schließt die Tür, und Roy liegt in seinem Bett, das Kissen, das gerade noch eine wundervolle, weiche Frau war, liegt platt auf seinem Schoß, und er will schreien, weinen, morden und sterben, aber nichts von all dem könnte jemals die Intensität dessen ausdrücken, was er wirklich empfindet. Deswegen bleibt er einen Moment lang ruhig liegen, so unglaublich ruhig, wie einer nur sein kann, kurz bevor er stirbt, aber Roy stirbt nicht, sondern steht einfach auf und geht ins Badezimmer.
Dort steht er vor dem Spiegel und guckt sein schlaftrunkeliges, dickes Gesicht an, schlägt sich eine Ladung kaltes Wasser darauf, steckt sich die elektrische Zahnbürste in den Mund und lässt anschließend den Rasierer surren. Das sind die gelernten Abläufe, die einfach so passieren, dafür muss man nicht wach sein, eigentlich muss man dafür nicht mal wirklich lebendig sein. Dieses festgelegte »wie immer« ist einer Schlinge gleich, die sich immer enger um Roys Hals zieht, diese Determiniertheit des Lebens fühlt sich an wie Eingesperrtsein, und dann klopft es an der Tür, und die Mutter kommt ins Bad und guckt ihn nicht an, und er sie auch nicht, die Peinlichkeit steckt ihm noch in den Knochen. Die Mutter legt eine Hose, ein Hemd, frische Unterwäsche, Socken und einen Pullover über die Stuhllehne, und Roy fühlt sich wie ein gefährliches Tier bei der Fütterung, wo der Löwenfütterassistent auch nur ganz kurz das Gehege betritt, um dann wieder schleunigst zu verschwinden, so wie die Mutter jetzt wieder wortlos durch die Tür abgeht. Es tickt in Roy, so laut, dass er sich die Ohren zuhalten möchte, aber es tickt ja in ihm und seine Finger sind einfach zu dick, sich selbst die Ohrmuscheln rauszureißen.
Da
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