Trisomie so ich dir
schmutzigsten aller Hinterhalte zu locken gedenkt. Erst sieht das alles immer so aus, als würde das schön werden, was Solveig anfängt, aber dann tun sich nach und nach Risse im Leben auf. Das nennt man dann wohl Erfahrungen sammeln. Solveig hat dafür einen Begriff entwickelt, für dieses subtile Phänomen der glänzenden Scheiße: Welteinsammeln. Ich gehe welteinsammeln, denkt sich Solveig und am Ende muss doch irgendwas aus Kuchen werden. Die eingesammelten Teile der Welt verhalten sich aber zumeist so, dass Solveig darüber nur ärgerlich werden kann.
Der Arbeitstag ist zu Ende, und alle strömen wieder Richtung Ausgang. Obwohl strömen nicht das korrekte Wort ist, denn unter strömen stellt man sich doch eine Bewegungsgeschwindigkeit vor, die deutlich über Schrittgeschwindigkeit liegt. Die Menschen, die hier vermeintlich gen Ausgang strömen , haben alle Zeit der Welt oder sind einfach körperlich nicht imstande, eine Art Schrittgeschwindigkeit einzuhalten. Die Langsamkeit, in der hier Informationen von diversen Rezeptoren weitergeleitet werden, die regt Solveig unglaublich auf, und sie merkt, dass diese Langsamkeit sie heute aufgeregter macht als sonst. Aber sie muss sich anpassen. An dieses Tempo. Schritt für Schritt ist auch sie jeden Abend Teil dieser Herde geworden. Eigentlich wollte sie doch nur einen Job machen, aber jeder sauber zu machende Kothintern, jedes eingespeichelte Kleidungsstück und jede zusammenhanglose Lautäußerung macht sie nervös. Sie spürt insgeheim einen Hass auf diesen Haufen genfehlgebildeten Menschenauflauf und weiß, dass die Arbeit hier nicht ihre zukünftige Arbeit sein wird. Aber irgendwie muss sie sich jetzt durch das Praktikum boxen, denkt sie in ihrem mädchenhaften Pflichtbewusstsein. Einen Job zu haben, der einen täglich mehr ankotzt, das kann einen langsam töten. Oder erst mal verrückt machen. Und dann töten und zwar langsam. Aber wie viele Menschen leben so, dass sie entweder auf den Wahnsinn oder auf den Tod warten? Solveig schweigt und versucht, ein bisschen Freundlichkeit in ihrem Gesicht zu platzieren, aber die hat da scheinbar keinen Platz mehr zwischen der zusammengezogenen Stirn und den aufeinander gepressten Lippen, die, würden sie sich öffnen, einfach so, eine Beleidigung nach der anderen ausstossen würden (»… du Spasti, lern mal laufen, bevor du mich hier so anrempelst … na, los, du vollgefressener Kackrollifahrer, dreh mal am Rad, bevor wir hier alle hinter dir verhungern … ja, du zimperliesige Psychotussi, so ist das Leben unter einem Epileptikerhelm auch gemeint, also hau dir noch mal selber eine rein …«) Derlei Zeug denkt Solveig und presst aber ihre Lippen gegeneinander, dass sie fast blau werden, um nicht einfach mal so einen Satz auszusprechen. Diese Sätze befinden sich nämlich direkt an der Oberkante ihrer Unterlippe, und es sind viele Sätze, eigentlich für jeden hier einen. Aber Ehrlichkeit ist selten hier in Gutmenschhausen. Also schweigt Solveig.
Eigentlich aber hat sie Bock, irgendeinen aus diesem Behindertenpack hier herauszuziehen, ihn an die Wand zu drücken und zu ihm zu sagen, dass man es mit dieser hier an den Tag gelegten Langsamkeit in diesen Zeiten der raketenartigen Beschleunigung nie zu etwas bringen wird, und der an die Wand Gepresste würde vielleicht einfach nur Lächeln, weil ihm das egal ist oder weil er vielleicht zu einer Reflexion des Gesagten nicht fähig ist oder weil er erst in seinem zehnwörtrigen Wortschatz kramen muss und ihr dann hochtrabendes, aber thematisch unangepasstes Poesiegut Marke »Wir grillen die Wurst« oder »Hund, Hund, ih, ih« entgegenschleudern würde.
Diese behinderten Menschen regen Solveig derzeit sehr auf. Das Schleichen und dazu dieses zerbrochene Sprechen, auf der Suche nach irgendwelchen konkreten Worten. Es ist gerade so viel Aufregung, dass man dieses Herzkribbeln hat, das einen so gut die Stufe der aufkeimenden Unbeherrschtheit spüren lässt, aber zu wenig, um wirklich auftretend medienwirksam auszurasten. In Gedanken liest Solveig eine imaginäre Zeitungsschlagzeile: »Junge Studentin läuft Amok in Behindertenwerkstatt, Zitat: Ich ertrug diese erbärmliche Langsamkeit nicht.«
Gut, dass es nur ein Praktikum ist, denkt sie, als sie die Autotür ihres grünen Fiat Punto zuschlägt, eine leichte Frustration im Körper spürt und sich wie automatisiert selbst Feuer gibt und das Radio einschaltet. Sie bläst Rauch ins Wageninnere. Dreckig anmutende Stromgitarrenmusik
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