Trisomie so ich dir
erfüllt die Fahrgastzelle des Kleinwagens aus schäbigen, alten Boxen, und dann fährt sie los.
Als sie den Parkplatz verlässt, sieht sie noch diesen Roy in einem Bus verschwinden und denkt sich, dass der es ja echt mal ziemlich gut hat, bekommt einfach so staatlich subventioniert Arbeit, alle finden ihn immer süß, und er bekommt zu Essen und zu Trinken und einen großen Batzen Behindertenbonuszuwendung. Solveig stellt sich ihr Leben als Behinderte vor, während sie so fährt und raucht und meint, dass das fürwahr ein erquickliches Leben sein könnte. Förderungen und Liebe kassieren, ohne sich großer Anstrengung auszuliefern, sondern einfach nur, weil man ist, wie man ist. In eine mentale Schräglage hineingeboren oder aber hineingeunfallt. Ausweglos zumeist, und hier, hier werden sie aufbewahrt, therapiert und beschäftigt. Schlecht wäre das nicht, denkt Solveig, dann würde vielleicht auch endlich diese Sehnsucht nach Liebe zu Sehnsucht nach Kaffee, und ein Stück Kuchen würde sie so glücklich machen wie lang anhaltender, orgasmusspendender Sex, was so ein Leben ja irgendwie einfacher machen würde. Ja, das wäre ein Leben, denkt sich Solveig, eines, in dem man Forderungen einfach mal behinderungsbedingt ausschlagen könnte und sich hinter der Wand aus Spucke zu verstecken, die man täglich aufstellt.
Solveig aber fühlt, dass sich diese Aggression, die sie gegen die Langsamkeit des umliegenden Lebens fühlt, eigentlich eine Aggression gegen sich selbst ist. Dieses Vielfühlen im Bereich der abgefuckten Gereiztheit ist ein Zeichen des Kaumfühlens im Allgemeinen. Aber sie ist doch eine junge Frau, denkt sie, so jung und erlebnisbedürftig und wird doch nur immer mit dieser elenden Langsamkeit konfrontiert. Nicht nur hier, sondern überall. Die Liebe hat sich versteckt, das große Glück ist ein riesen Arschloch, das immer nur an ihr vorbeigeht, ihr seinen geilen Körper zeigt, um sich dann aber abzuwenden und andere Leute zu besuchen, die dann Kaffee und Streuselkuchen mit dem Riesenarschloch Großglück haben, Hand in Hand auf Stadtfeste gehen und ihre Gedanken auf Dinge fokussieren können, die für Solveig weit entfernt zu sein scheinen. Durchatmen oder so was, oder ein stabiles Herz haben, das zwar Liebe empfinden kann, aber auch stabil genug ist, nicht auszuflippen, wenn sie wieder geht, die Liebe.
Sie fährt stadtauswärts und raucht und denkt sich was, versucht sich mit Klar- und Gefasstheit aus ihrer Lage heraus zu denken. Und ihr Kopf fühlt sich an wie eine Arena, in die böse Gedanken, die mit der Realität zu tun haben, sich mit Mädchengedanken, die mit ihrer Romantik zu tun haben, duellieren, und natürlich gewinnen die bösen Gedanken und zerfleischen die kleine angedeuete Hello-Kitty-Romantik, die dann schmerzverstärkt am sandigen Boden der Arena liegt, und alle blutgeilen Zuschauer brüllen »Tod, Tod, Tod« oder so was, und Solveig versucht umzuschalten, etwas anderes zu empfangen, als diese Sender, die immer nur Unruhe und Anklage machen. So fährt sie und ihr Kopf hat ein Gewicht von tausend Steinen, und irgendwann ist sie an ihrer Mietwohnung angelangt. Die ganze Autofahrt nur geraucht und nachgedacht. Aber das Denken kann man sich schenken, denn das Ergebnis des Denkens ist immer gleich: Es bringt immer neue Verwirrung.
Vor dem Haus steht ein Leichenwagen. Er hat weiße Gardinen an den Seitenfenstern und an der Heckscheibe und eine sehr edle und tiefenentspannte Ausstrahlung, wie er da so auf dem Seitenstreifen steht und Platz einnimmt. Es ist ein Mercedes, und Solveig denkt, als sie aussteigt: »Ja, ja, die Toten, die fahren Mercedes, und die, die am Leben hängen, fahren so kleine Autos, dass sie Platzangst beim Fortbewegen bekommen.« Die Logik ihrer Gedanken erschließt sich ihr nicht, weil darin keine wohnt, und sie läuft die Treppen nach oben und hört ein Wimmern. Ein Wehklagen, und das wird immer lauter, je höher Solveig im Treppenhaus gelangt. Stufe für Stufe lauteres Wimmern.
Solveig sieht aus der Wohnung ihrer Nachbarin zwei Männer kommen, die einen Sarg tragen. Beide tragen schwarze Anzüge und gucken ansonsten sehr neutral und stimmungsegal. Am hinteren Sargträger hängt die alte Nachbarin mit dem leergewohnten Gesicht, die, deren Mann, der jetzt wohl in dieser Kiste liegt, Solveigs Parfüm gefiel. Das alles denkt Solveig sehr schnell, in einer Kombinationsgeschwindigkeit, die sonst nur Tiere haben, die von irgendwas bedroht werden. Ein Fluchtreflex setzt ein.
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