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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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stupiden Millimeter vom wertlosen Zehnagel. So stellt sich Roy die Liebe vor. Jemand, der alles an einem aufessen will, das ist für Roy aufrichtige Liebe.
    Als der Bus vor der Werkstatt hält, kann Roy es kaum glauben, ein Schauer der Erregung fährt ihm durch die Beine, durch sein Genital, durch alles, was er sonst noch ist, und direkt neben dem Bus parkt ein kleines, grünes Auto, ein verdammter Fiat Punto, und Roy entgleist kurz das dicke Gesicht, was aussieht, als würde ihm jemand Unsichtbares eine reinhauen, was aber niemandem auffällt, denn entgleiste Gesichter, die wie Gesichter während eines Schlages aussehen, sind hier keine Seltenheit. Hüpfen will er, der Roy, ob seiner Entdeckung dieses Mobils, hüpfen wie ein beschissenes Sommermädchen auf einer saftgrünen Wiese, aber er verkneift sich ein Hüpfen, geht in gewöhnlichem Trottschritt auf den Eingang der Werkstatt zu und bemerkt nicht mal mehr, wie ihm ein Spastiker beim Überholen auf den Arm sabbert, nein, Roy ist gefangen vom Moment, und das Gefängnis des Augenblicks ist derart schön zu bewohnen, dass ihn plötzlich nichts mehr trifft. Er schreitet durch die anderen herumstehenden Leute, schreitet königlich, denn dieses Gefühl ist in ihm zu gegen. Er ahnt etwas Schicksalhaftes, was hier geschehen kann, der Halbtraum des Morgens und nun, als Beweis dafür, dass ein gutes, aufrichtiges und wunderbewaffnetes Leben tatsächlich möglich ist, steht hier ihr Auto.
    Roy begibt sich an seinen Arbeitsplatz, der ihn täglich mit unsichtbaren, aber trotzdem spürbaren Ketten empfängt. Aber irgendetwas ist anders heute, und dann sieht er sie auch schon. Ihr Gang fällt Roy als erstes auf. Ihr schöner Gang, den er schon einmal auf dem Supermarktparkplatz bewundern durfte. »Das ist Solveig, unsere neue Jahrespraktikantin.« So wird es dem Roy und seinen Kollegen erklärt, und die Solveig sagt ein paar Worte zu allen, und die anderen Mitarbeiter sagen auch alle was, und Roy kann kaum mehr seinen Gesichtsausdruck kontrollieren, und er schaut in ihre Richtung, und sie schaut sogar zurück und lächelt, und Roy will genau in diesem Moment mal kurz tot sein, einfach nur, weil dieser Blick Solveigs ihn derart mit Leben betankt, dass es sich wie viel zu viel Leben anfühlt, die totale Überdosis, der goldene Schuss, und fast unaushaltbar zu sein scheint. Jetzt, da ihn Solveig angeschaut hat, so richtig mit festem Willen im Blick, da denkt Roy, dass er jetzt auch alles erlebt hat, einfach nun von seinem Stühlchen kippen könnte, um lächelnd ins Reich der Toten überzusiedeln. Aber er stirbt nicht, sein fettes Herz beschleunigt lediglich die Schlagfrequenz, was ganz unkontrolliert passiert, und Roy fühlt sich, als würde in ihm ein Eimer Schrauben umkippen, und das zärtliche Geräusch, was die Metallstifte auf dem Holzboden machen würden, würde endlos in ihm hallen.
    Roy beginnt seine Arbeit wie ein Automat, und Schrauben, Tüten und Eimer spielen komische Nebenrollen in einer gerade beginnenden Liebeskomödie. Er sieht Solveig aus dem Augenwinkel mit Mitarbeitern und anderen Beschäftigten herumstehen und Erklärungen geliefert bekommen. Sehr lange stehen sie bei Johanna und beschreiben ihre Epilepsie und was im Falle eines Anfalls zu tun sei. Johanna selbst gibt laute Anweisungen und auswendig gelernte Handlungsrichtlinien preis. »Wenn ich fall, dann nit die Ahme fette halte, tönnte breche«, tönt sie Richtung Solveig, und Roy sieht Spucketropfen von Johannas Mund Richtung Solveigs Gesicht auf die Reise gehen. Der Mitarbeiter fällt Johanna aber ständig ins Wort, korrigiert sie, wo es nur geht, und tätschelt ihren Helm. Roy weiß, dass man auf diese Weise sein Unvermögen in Sachen Menschlichkeit darstellt. Die Überheblichkeit des Mitarbeiters symbolisiert seine eigene Unsicherheit im Kontakt mit Menschen, und diese einfachen Berührungen, die Johanna als vertrottelte Betreute und ihn als herrschenden Betreuer darstellen, die hat er Jahre lang perfektioniert.
    Im nächsten Augenblick steht Solveig vor Roy und schaut ihn an, und der unliebsame Mitarbeiter kommentiert Roys Arbeitsverhalten und versucht ihn mit den ihm bekannten Worten zu beschreiben. »Das ist der Roy, unser Goldstück. Der ist so fleißig, man könnte ihn für eine Maschine halten.« Goldstück, Maschine, das sind so Worte, die Roy niemals im Leben auf sich zutreffen lassen mag. Das sind Worthülsen, die ihn entwerten, ihn sozialpädagogisch degradieren, auch aus ihm einen

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