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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Hier geht es um den Tod, Mädchen, echte Gefühle, lange Liebe und so. Also nichts, mit dem Solveig in ihrer instabilen Lage Umgang pflegen sollte.
    Solveig kann kaum atmen, als sie an dem vorderen Sargträger vorbeigehen will, der plötzlich lächelt, aber immer noch so, als habe er kein Gefühl irgendwo, sondern sei ausschließlich mit Neutralschauen und besänftigendem Ausdrucksloslächeln beauftragt. Ein seltsames Lächeln ist das, Solveig glaubt auch, dass nur Sargträger so lächeln können, so bestimmt freundlich, aber immer mit einer Pietät im Blick, die sofort kundtut, dass es hier um das Ende eines Lebens geht, dessen Reste jetzt mit Würde weggeschafft werden sollen.
    Der hintere Mann redet auf die Frau ein, dass sie ihn bitte loslassen solle, er habe da ja seine Arbeit zu tun, und er wisse ja, wie schwer Abschied sei, aber sie hatte doch wohl genug Zeit, diesen zu vollziehen. Wieder Wimmern der Frau. Sie hängt am Sargträger als trügen beide Bekleidung aus dem Material, aus dem Klettverschlüsse hergestellt werden, und wimmert nur noch, und der Mann, Solveig sieht es deutlich, ist sichtlich genervt. »Bitte, lassen Sie mich los«, spricht er in größtmöglicher tiefenpsychologischer Neutralität. In seiner Stimme, das fällt auf, wohnt auch etwas Melancholisches, was sehr gut dahin passt. So, wie bei der Stimme vom Sänger der Tindersticks, bei dem man ja auch nie sicher ist, ob er jetzt weint oder singt. Warum Solveig jetzt diese Band einfällt, weiß sie auch nicht. Die Tindersticksstimme sagt noch einen Satz: »Wir bringen Ihren Mann jetzt weg, das ist unsere Aufgabe.« Selbst jetzt, wo er ziemlich genervt ist, wohnt da eine wohlige Zärtlichkeit in der Stimme. Solveig denkt an Zartbitterschokolade, als sie die Sargträgerstimme hört und hält ihren Gedanken für Logik. Der Mann will sich jetzt losreißen und verliert dabei den Halt, muss eine Hand vom Tragegriff des Sarges nehmen und einen Ausfallschritt zur Seite machen, wodurch auch der vordere Träger ins Straucheln gerät und sich irgendwie am Treppengeländer abstützen muss, um nicht zu Fall zu kommen. Dabei entgleitet ihm ebenfalls ein Griff der portablen Totentransportkiste, und der Sarg rutscht ihm ab und knallt laut auf eine Treppenstufe und poltert dann unentspannt eine Treppenhauseinheit tiefer. Solveig denkt an Bobfahren. Der Sarg fährt ein Stockwerk tiefer und knallt dort gegen die Wand. Nach diesem Geräusch ist es einen Moment in der Tat totenstill …
    Die alte Frau hängt immer noch am hinteren Träger, schreit dann aber laut auf und hält sich dann anschließend beide Hände vor das rotgeweinte, aufgeschwemmte Gesicht und spricht irgendwas mit »Gott« in ihre alten, faltigen Hände hinein. Gott spricht nicht zurück. Sicherlich hat er zu tun oder so, irgendeinem seiner Hobbies nachgehen, Minigolfen, Ponyreiten oder Playstation zocken. Es klingt wie ein Gebet, was die alte Frau da von sich gibt. So ein Gebet von verzweifelten alten Leuten, die Inhaber einer derben Biographie sind. Sie nimmt die Hände vom Gesicht und brüllt die Stufen hinunter, Richtung Sarg: »Hermann, Hermann, ist dir was passiert, geht es dir gut, Hermann?« Hermann antwortet nicht, und die beiden Sargträger rappeln sich wieder auf, die Kiste jetzt aber endgültig fortzuschaffen. Beide sagen kein Wort. Solveig steht steif wie ein kleiner Baum im Treppenhaus, nur fünf Stufen über der Tragödie, und jetzt blickt die Alte sie an und sagt, fast sanft und trotzdem mit einer Zerbrechlichkeit in der Stimme, die Solveig die Gedärme zusammenschnürt: »Sie nehmen mir meinen Hermann weg.« Dann schaut die alte Frau abwechselnd zu Solveig herauf und zu den Sargträgern hinunter, die sich mittlerweile wieder der Kiste gewidmet und diese aus der Ecke des Treppenhauses herausgewuchtet haben. Die Träger tun ihre Arbeit, und Solveig ist starr vor Entsetzen, so überraschend dem Tod begegnet zu sein. Der Blick der Frau trifft sie wieder, aber sie weiß nicht, ob das wirklich ihr Blick ist, der da hinter diesem Tränenschleier stattfindet. Könnte auch der Blick eines trauernden Monsters sein. Die Männer haben sich die Kiste gepackt und sind wortlos hinuntergehastet, und die Frau steht im Treppenhaus wie ein Kind, das niemand beim Versteckenspielen gesucht hat und murmelt irgendwas, und Solveig hört die Worte »Gott« und »Hermann« und »Tod« und weiß nicht, was sie jetzt tun soll. Sie könnte ja der alten Frau irgendeine Art von Hilfe anbieten, aber was für

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