Trisomie so ich dir
packt. Auch dabei schaut die Mutter Neutralität, sie guckt, wie man sich die Schweiz vorstellt, irgendwie niedlich und konfliktarm, aber eben auch mit einer gewissen Distanz zu allem, wobei sie eine unglaublich unverständlichen Sprache benutzt. »Mein Sohn«, murmelt sie durch ihre eigenen Stolperfallengedanken und guckt an Roy vorbei.
Das Brot ist in dafür vorgesehenes, weißes Papier eingeschlagen, etwas Margarine tritt unter dem Wurstbelag hervor und quetscht sich sichtbar, ja fast fühlbar zwischen Brot und Brotpackpapier. Auch dieses Wurstbrot hat ein Gesicht, und es lächelt Zynismus in Roys Anwesenheit, es scheint ihn auszulachen, dieses beschissene Wurstgesicht. Aber er hat der Wurst etwas voraus, denkt Roy, er ist ja im Gegensatz zur Wurst noch lebendig. Auch wenn es sich manchmal anders anfühlt.
Anschließend geht er hinaus, aus der Haustür, die Mutter bleibt an der Tür stehen, und Roy fühlt, wie sich ihr Blick in seinen Rücken bohrt, der Blick ist eine Waffe, die an seiner Wirbelsäule herumsägt, seinen aufrechten Gang behindern will. Der Blick der Mutter sagt auch so absonderliche Dinge wie: Bestünde die Möglichkeit, den Mongo-Roy heute noch in die Muttervagina zurückzuschieben, um diese erste kaputte Geburt als Versehen zu bezeichnen und ihn dann noch mal zu gebären, diesmal als ausbildungsfähigen, gewöhnlichen Jungen, wir würden es auf jeden Fall versuchen.
Erst als das Elternhaus außer Sichtweite gerät, entkommt Roy dieser Unwirklichkeit, diesen Gedanken voller Seltsamkeit, die er mit sich herumschleppt. Dort ist die Bushaltestelle, die Stelle, an der er allmorgendlich wartet, um wieder zu seinen Schrauben, Tüten und Eimern zu gelangen, aber das ist immer noch um Längen besser, als stundenlang mit Leuten wie seinen Eltern abzuhängen, denen er wie eine Mauer vorkommt, die zwischen ihnen und einem erfüllten und kompletten Leben steht und die Aussicht auf irgendetwas Schönes versperrt. Ja, Roy fühlt sich im Weg, er ist in den Augen seiner Eltern der Staudamm, hinter dem diese überschäumendes, fließendes Glück vermuten, daher wollen sie, dass er bricht. Aber Roy bricht nicht. Noch hält er all diesen Einflüssen Stand und steht an dieser Bushaltestelle, vor ihm ein Tag, der es auch wieder nicht bringen wird. Das Gefühl, essentieller Bestandteil einer zertrümmerten Landschaft zu sein, macht sich in Roy breit, und dann kommt der Bus.
Ein Tumult, der Tumult wie jeden Morgen, den Bus besteigen, in dem es nach anderen Leben riecht, Leben, mit denen Roy nichts zu tun haben möchte und die sich trotzdem durch Lautstärke oder Geruch derart aufdrängen, dass Roy sich mit ihnen beschäftigen muss . Er setzt sich auf einen freien Platz, irgendwo in seiner unmittelbaren Nähe lautiert jemand. Dieses Geräuschemachen um des Geräuschemachens Willen, das hat Roy noch nie verstanden. Aber er weiß auch genau: Würde er sich irgendwann mal entscheiden, sich durch den Mund zu artikulieren, er hätte die Fähigkeit, einen entfesselten Schrei auszustoßen, welcher die hier im Bus vorherrschende Geräuschkulisse sang- und klangvoll zerstört. Dieser eine Schrei wäre imstande, die Worthülse »ultrabestialischlaut« neu zu definieren. Da würde ein Dezibelalarm aus dem Roy erschallen, der den anderen Menschen die Haut von den Köpfen und Körpern risse, und mehr müsse man dann auch nicht mehr sagen, weiß Roy. Aber er setzt sich hin und schweigt, und das innere Lärmen ist viel lauter als das äußere Schweigen. Irgendwo anders, aber auch nah, riecht jemand nach uringetränkter Bekleidung. Der Bus fährt los, und Roy weiß, dass das Leben inmitten dieser anderen lauten Leben wie eine Tätowierung ist, von der man weiß, dass es weh tut, sie zu bekommen, aber auch, dass es unmöglich ist, sie schmerzfrei wieder loszuwerden.
Roy schließt die Augen, der Bus rumpelt langsam und geräuschvoll durch den Morgenverkehr, und Roy denkt an den Morgen, den Morgen, der so kuschelig begann, als sich sein Kopfkissen in die schönste aller ihm bekannten Frauen verwandelte, mit der er dann Fortpflanzungstätigkeiten ausübte. Er erinnert sich sogar an einen Geruch, den die Frau im Halbtraum hatte, sie roch nach Orange und Rose, so unglaublich fruchtschön. Der imaginierte Geschlechtertanz lässt Roy die Geräusche um ihn verdrängen, und er ist wieder ganz der erwachende Körper von heute morgen, als sich diese rothaarige Frau für ihn interessierte, für alles an ihm, für jedes dumme Haar und jeden
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