Trisomie so ich dir
Ingeborg ein paar Mal leise vor sich hinspricht: »Witwe, Witwe, Witwe …« Dann kichert sie ein wenig, weil das Wort irgendwie komisch klingt. »Witwe, Witwe …«, sagt sich noch mal und steht auf und geht zum Kühlschrank. Da liegen Dinge rum, die Ingeborg an Hermann erinnern, seine Lieblingsmarmelade, Waldfrucht, Mangojoghurts und die Wurst mit dem Bärengesicht drauf, die Hermann so gerne aß. Die bärengesichtige Fleischware kommt ihr jetzt extrem fremd vor, obwohl sie Hermann immer davon auf sein Brot gab, jeden Morgen, und dann wurde gelächelt, abgebissen, geschwiegen, die Zeitung genommen und in aller erbarmungsloser Stille weitergefrühstückt. Ingeborg holt die Dinge, die Hermann mochte, aus dem Kühlschrank heraus. Die Bärenwurst sieht sie sich noch einmal skeptisch an und sie versucht, sich an sein Schmatzen zu erinnern, welches er an den Tag legte, nachdem er kräftig von einem Brot mit Wurst mit Bärengesicht abgebissen hatte. Dann nimmt sie jeden Gegenstand einzeln und gibt ihn liebevoll in den Mülleimer. Weg damit, raus aus diesem Leben, denkt sie. Hermann ist tot, die Erinnerung an ihn ohnehin beständig, doch Ingeborg fühlt, dass ihr selbst nicht mehr viel Zeit bleibt, an diesem großen Ding namens Leben teilzuhaben, weswegen eine Unruhe in sie gerät. Da kommt ein Zittern, sie merkt es in ihrem Herz, ja, ihr fettes Herz zittert und sie fragt sich: Was, wenn ich jetzt hier einfach auch so umfalle, hätte ich alles gesehen, was zu sehen möglich gewesen ist. Sie fragt sich leise, ob sie ein Leben gelebt hat, dass über eine bloße Existenz hinausging oder ob man es wirklich mit gutem Gewissen Leben hat nennen können. Es ist ja noch nicht vorbei, dieses Leben, kommt ihr dann in den Sinn, und das Herzzittern wird immer heftiger, eine unbestimmte Sehnsucht nach ungesehenen Dingen verfestigt sich in ihrem Zitterherz. »Geh raus!«, schreit ihr Herz sie plötzlich an, und bevor Ingeborg fragen kann, was das denn bringen würde, geht sie wie eine ferngesteuerte, willenlose, aber immerhin altersbedingt langsame Puppe zur Garderobe, um sich wetterfest zu bekleiden.
Plötzlich steht Ingeborg im Flur. Sie riecht das Mädchen, das diesen wunderbaren Duft mit sich trägt. Oben schließt sich die Wohnungstür, und sie hört kleine Schritte, die wahrscheinlich von dem duftenden Mädchen her rühren. Die Schritte sind langsamer als sonst und der Duft viel intensiver. Ingeborg schließt auch ihre Tür, und die Schritte nähern sich. Das Duftmädchen schaut sie an und lächelt schief und schaut dann schnell wieder weg, um hurtig an ihr vorbei zu gehen. Dann wird Ingeborg plötzlich bewusst, dass das Mädchen ja alles weiß, dass sie auch hier auf den Stufen war, als Hermann im Sarg auf den unter ihnen liegenden Treppenabsatz polterte. Sie war Zeugin des Dramas, das sich hier abspielte. Sie hat Ingeborg in einem ihrer hilflosesten Augenblicke gesehen. Das verbindet, denkt Ingeborg und will noch was die Treppe runter rufen, dem gut riechenden Mädchen hinterher, aber die ist schon weg, außer Sichtweite, ihr Geruch allein steht noch im Flur und versucht, einen Zauber zu gestalten. Ingeborg geht langsam weiter, steigt altersentsprechend langsam die Stufen hinab und ist irgendwann vor dem Haus. Noch richtungslos verpeilt denkt sie: Ja, wohin denn jetzt. Es ist kalt, also muss sie sich bewegen, also bewegt sie sich. Außerdem ist es dunkel, und Ingeborg erkennt kaum den Gehweg unter ihren Füßen, aber dieser Moment des Draußenseins spült alle Zweifel weg. Fallen und sich den Oberschenkenhals brechen? Egal. Orientierungslos aufgefunden und ausgeraubt werden? Das Leben ist halt so …
Ingeborg läuft wie ein unlängst aus dem Zirkus befreiter Tanzbär, der nun endlich in freier Wildbahn die Dinge unternehmen kann, die Bären halt so tun, also sich dunkle Schaufenster angucken und sich auf Parkbänken ausruhen, bis es zu kalt wird, um sich noch weiter auszuruhen. Dann weitergehen, sich durch die Welt schleichen und hoffen, dass einen niemand mehr aufhält.
Die Luft schmeckt nach Güte, Hermann ist nur noch ein verschwommenes Gefühl, von dem sie aber jedem Menschen hier erzählen könnte. Die Großartigkeit ihres phänomenalen Mannes, für den sie über die Hälfte ihrer Lebenszeit in einem Haus verbrachte, welches nach dem Verlassen wie ein Gefängnis wirkte. Sich von einem unbewussten Gefängnis langsam zu entfernen, fällt Ingeborg auf, verströmt echt mal Wohltat. Ingeborg denkt an Erbsensuppe mit
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