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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Er traut sich nicht, sie zu berühren, und Solveig heult. Ihr Kopf liegt auf dem Tresen, zwischen Schnapsgläsern und Bierpfützen, und Solveig heult. Der junge Mann ist verwirrt, und Solveig heult. Dann geht er lieber weg, denn soviel Emotionen, wie er hier auf diesen Tresen geweint sieht, will er gar nicht erleben, der junge Mann, und Solveig heult. Solveig heult sich ihr Leben aus dem Kopf. Sie wirkt wie eine abgefuckte Trinkerin, der man nicht zu nahe treten darf, und bestellt daraufhin noch Getränke, die abgefuckte Trinkerinnen, denen man nicht zu nahe treten darf, bestellen.
    Stunden verticken abscheulich sonderbar. Wie durch Filter gepresst nimmt Solveig Stimmen, Geräusche und etwaige Berührungen wahr, schwebt aber in einer Kunstblase der Unantastbarkeit durch das Etablissement. Wenn Solveig sich daran erinnern können würde, könnte sie die Frage: »Sag mal, hast du jemals mehrere Stunden regungslos auf einem Tresen in deinen eigenen Tränen und in deinem eigenen Speichel verharrt, weil sonst einfach nichts mehr ging?« mit einem klaren ja beantworten. Die tragischen Momente eines jungen Lebens.
    Keine Hand des Trostes von irgendwo und eine Stimme, die sagt: »Aufstehen, junge Dame, der Laden macht jetzt genauso dicht, wie du bist«. Solveig, nahezu leer geweint und in dunklen, emotionalen Randgebieten ansässig, lächelt verpeilt in irgendeine zufällige Richtung, aus der sie die Stimme vermutet. Sie ordnet ihre Haare, wie man halt Haare ordnen kann mit einer Ladung destruktiv machender und anonymer Alkoholika und bunten Cocktails im Gehirn, und gleitet langsam vom Barhocker herunter, der sie bis eben noch trug, und steht im Club, auf sich allein gestellt. Solveig macht ein paar Schritte und bemerkt, dass unter und in ihr ein Erdbeben tobt. Der Boden ist ungerade, wie auch ihre ganze Persönlichkeit. In Alkohol getränkt. Sie wackelt durch eine Tür. Aber zumindest sind die bösen Gedanken weg, zumindest für die Zeit, wo der Rausch da ist.
    Der junge Mann hat gewartet, hat auf eine Chance gewartet, der Solveig vielleicht doch noch zu nahe treten zu dürfen. Als sie so gerade das Etablissement verlässt, will er sich noch einmal in ihren Weg stellen und spricht irgendwas, was zum Inhalt hat, sie heimzubegleiten. Aber die krasse und überraschende Zufuhr von Frischluft lässt in Solveig ganz andere Gelüste entstehen, und sie merkt, wie die Erde wackelt, der Magen wackelt auch, und kaum hat der junge Mann ein paar Worte gesagt und sie am Arm berührt, entgleitet ihrem schönen Mund eine Ladung Kotze. Gefolgt von einer weiteren. Solveig würgt bunte Flüssigkeit aus ihrem Innersten. Der junge Mann hat mit vielem gerechnet, mit einer klaren Abfuhr, aber auch insgeheim mit einer Zusage, nicht aber mit voll gekotzten Klamotten und Schuhen. Er reagiert standardisiert aggressiv, ein Männerritual, wenn einem soviel Buntes widerfährt, das ist schon einen Spruch wie diesen wert. »Boah, du blöde Bitch, ey, sach mal, geht’s noch …«, bekommt Solveig ins Gesicht gebrüllt, aber sie grinst nur und wischt sich den Mund mit der Handinnenfläche ab. Der Typ, der seine ganze ihm mögliche Freundlichkeit aufgespart hat, um sie an diesem Abend gegen Geschlechtsverkehr zu tauschen, dafür aber angekotzt wurde, will sofort zuschlagen. Das wäre seine Antwort auf das hier. Die männlichste aller Antworten wäre das. Was auch sonst als ein gezielter Schlag in die Fresse. Aber da stehen noch andere Leute rum, also lässt er das, und Solveig taumelt vor ihm wie ein angezählter Boxer, der aber dann die Gewalt über seinen Körper zurückgewinnt und einfach losläuft. Der Typ bleibt zurück, voll gekotzt und so dumm und ungefickt als wie zuvor.
    Ihr Körper bewegt sich ohne ihr Zutun. Irgendein in ihrem Kopf befindliches Navigationssystem leitet sie auf ihrem Weg. Die Welt wackelt, vergrößert und verkleinert sich. Ab und an steht auch plötzlich die Straße auf, um ihr feste und nachhaltig ins Gesicht zu schlagen. Solveig steht aber immer wieder auf, und irgendwann ist da dieses Haus, in dem sie wohnt. Sie schafft es nicht mehr, den Flur zu beleuchten, und fällt über Stufen, versucht, einen Schlüssel in ein Schloss zu stecken, scheitert, weil dazu Feinmotorik von Nöten wäre, die einfach nicht mehr vorhanden ist. Und dann bemerkt sie, wie das Gift in ihrem Kopf auch an ihre Magenwand klopft, und es fühlt sich an, als würden winzige Bergarbeiter in ihrem Magen mit schwerem Gerät irgendwelche Sachen von der Wand

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