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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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etwa, »war nicht viel größer als wir. Aber er hat Großes vollbracht. Er hat Könige und Herzöge, Erzbischöfe und Päpste davon überzeugt, dass alle Glieder, die wir besitzen, zusammen einen Körper ergeben, so wie es Tristan nur gibt, wenn der kleine Finger von Tristan an seiner rechten Hand genau das tut, was Tristan will, weil andererseits dieser kleine Finger nicht mehr tut, als er tun soll. - Verstehst du das?«
    »Nicht ganz«, hatte Tristan geantwortet.
    Courvenal musste lachen. »Ich auch nicht«, gab er zu. »Aber so wie Gott eine Idee von uns Menschen hatte, nach der wir wie alles in der Natur funktionieren, ohne es zu wollen, so hat er uns auch einen Willen gegeben, so zu handeln, wie wir handeln sollten. Das ist das Gesetz. Wer etwas gegen das Gesetz tut, vergeht sich am allgemeinen Willen, so wie sich eine Krankheit gegen unsere Gesundheit wendet. Die schlimmste Krankheit, die wir Menschen kennen, ist die Habgier, der Eigennutz. Wenn es Hunderte von Fürsten gibt, will jeder ein König oder Kaiser in seinem Land sein und erkennt den Nachbarn nicht an als einen ebensolchen König oder Kaiser, der darüber hinaus vielleicht noch etwas hat, was er nicht hat: einen Berg voller Silber, ein Wasser, in dem pures Gold schwimmt. - Kannst du mir folgen?«
    »Ich reite doch neben Euch!«
    Da musste Courvenal seufzen. Tristan war klug und geschickt. Doch bisweilen hatte sein Lehrer den Eindruck, dass er sich weniger auf seinen Geist, seine logica verließ als auf eine Paarung von Intuition und manueller Gewandtheit. So hatte Courvenal während der ersten Wochen ihrer Reise bemerkt, dass Tristan immer geschickter mit seinem Pferd umging. Er behandelte es wie einen Freund, flüsterte ihm ins Ohr, strich ihm vorsichtig über den Kopf und verhielt sich dem Tier gegenüber so liebevoll, dass es den Mönch zum Widerspruch reizte. »Das Pferd hat uns zu dienen!«, sagte er einmal voller Ungeduld, als sich irgendwo in Flandern ihr Fortkommen verzögerte. Woraufhin Tristan weiter sein Pferd streichelte und, ohne sich stören zu lassen, ein einziges Wort erwiderte: »Umgekehrt.«
    Dieses >umgekehrt< ging Courvenal lange nicht aus dem Kopf. Vielleicht war auch etwas mit seinem Schüler umgekehrt. Warum sollte ein Marschall, der anstatt seines verstorbenen Königs ein kleines Fürstentum verwaltete, seinem Erstgeborenen eine besondere Bildung angedeihen lassen? Ruals andere beiden Söhne - Courvenal hatte ausdrücklich danach gefragt, um eventuell einem guten Freund, Gero aus Worms, eine Erzieherstelle zu vermitteln - sollten hingegen wie üblich von einem Geistlichen auf Conoêl erzogen werden. Was war an Tristan so anders? War Floräte vielleicht nicht seine Mutter - oder Rual nicht sein Vater? Das musste es sein, das Letztere. Vielleicht war Tristan der Sohn eines Bischofs, der auf seiner Reise nach Britannien oder Irland auf Conoêl haltgemacht und mit Floräte ein Kind gezeugt hatte. Das hätte auch die übertriebene Religiosität, die Rual an den Tag legte, erklärt. Säuglinge waren nicht voneinander zu unterscheiden, es sei denn, sie hatten rote Haare, eine dunkle Hautfarbe oder Muttermale, die sie kennzeichneten. Tristan war blond, seine Brüder aber, Edwin genauso wie Ludvik, würden später einmal dunkelhaarig sein, das war unübersehbar gewesen.
    Etwas anderes machte Courvenal noch nachdenklicher. Es war die Art und Weise von Tristans Verhalten, die der seines Vaters ganz widersprach. Rual ging völlig in den vorgegebenen Regeln auf, war verlässlich, sorgte sich um alles und verlor nie den Zweck seines Tuns aus den Augen. Tristan hingegen träumte gern, hatte Lust am Lernen und spielte dann gleichsam mit dem Erlernten. Wenn er mit Pfeil und Bogen schoss, war ihm die Freude über den gleichmäßig sich senkenden Flug des Pfeils genauso wichtig wie das Treffen des Ziels. Courvenal hatte beobachtet, wie der Junge auf der Reise mit seinem Dolch umging: Er konnte ihn in der Hand wenden und drehen, wie Gaukler es mit einer Münze zwischen ihren Fingern taten, um sie plötzlich im Handteller verschwinden zu lassen. Tristans Kunststück mit dem Dolch bestand darüber hinaus darin, dass er ihn blitzschnell von der einen in die andere Hand wechseln konnte. Ein Gegner wäre dadurch so getäuscht, dass er die vermeintlich zustechende Hand mit einem Mal unbewaffnet sähe, während die andere tatsächlich zustach, nicht ins Herz, sondern unterhalb der Rippen in den Bauch.
    Courvenal hatte Freude daran, solche Beobachtungen

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