Tristan
fleckige unbrauchbare Buchseite, und stellte sich dabei vor, wie dieser Mensch wohl aussehen würde, aus dessen Körper seine Kinder herauswuchsen. Und was war wohl ein »Nagelmagen«? Er nahm sich vor, Courvenal um eine Erklärung zu bitten, denn zu Gregor wollte er nicht gehen, um sich nicht bloßzustellen und ihm recht geben zu müssen, dass dieses Buch nichts für ihn war.
Er wollte es schon zuschlagen, als er bemerkte, dass am Ende des Folio noch Seiten hinzugebunden worden waren mit unbekannten Schriftzeichen und der Zeichnung von einem Tier mit vier Beinen und einem langen Rüssel. Darunter stand in lateinischen Lettern: Abu ‘lAbbas und daneben »Weißer Elefant«. Auch diese Wörter notierte Tristan für sein Gespräch mit Courvenal. In der Hoffnung, ihn im Refektorium zu finden, meldete er sich bei Frere Gregor ab, er müsse zum abortus, und schlich durch die Flure zu dem großen Raum beim Haupthaus.
Niemand begegnete ihm, auch das Refektorium war menschenleer. Doch zu seiner Überraschung war eine niedrige Seitentür einen Spaltbreit geöffnet, von der er immer geglaubt hatte, sie führe zu einem Kellergewölbe oder Lagerraum. Denn manchmal traten durch sie Mönche mit Krügen oder Körben und schlossen immer sorgfältig hinter sich ab. Tristan schlich an die Tür heran, zog sie ganz auf und entdeckte so, dass sie hinaus auf eine schmale Gasse führte.
Gassen ~ 113 ~ Nacht
Tristan dachte sich nichts dabei, au´s der Abtei zu entwischen, er fühlte sich sogar wohl wie bei einer alten Gewohnheit, die er wieder aufnehmen konnte. Durch eine Tür zu gehen war viel einfacher, als durch einen Schacht in die Welt hinauszugelangen, von der ihn Mauern und Fenster abgeschirmt hatten.
Das helle Licht der von dünnen Wolken verschleierten Sonne versprach, dass ihm genug Zeit bleiben würde, sich umzuschauen und zum Abendbrot wieder im Refektorium zu sein. Er ahnte zwar, dass es Schwierigkeiten geben könnte, wieder ins Kloster hineinzugelangen, denn dieser Nebenausgang würde sicherlich bald wieder verschlossen. Doch kaum hatte er die enge Gasse verlassen und war auf eine belebte Straße getreten, zerstreuten sich seine Bedenken.
Um ihn herum waren plötzlich so viele Leute, die alle irgendetwas Wichtiges zu tun zu haben schienen, sich miteinander unterhielten, Lasten trugen oder Karren hinter sich herzogen, dass er die Abtei ganz vergaß und sich staunend das alltägliche Treiben ansah. Da kamen zwei Mönche die Straße herunter auf ihn zu. Schnell versteckte er sich hinter einem Stand, an dem Gemüse verkauft wurde. Als Einziges erkannte er Gurken wieder, die er nicht gerne aß. Verschiedene Wurzeln und kugelrunde Feldfrüchte, die der Händler als »Kohlköpfe« anbot, hatte er noch nie gesehen. Tristan bückte sich und hob ein heruntergefallenes Blatt von solch einem Kohlkopf auf und biss hinein. Es schmeckte süßlich. Er kaute eine Weile darauf herum, bis ihn ein Tritt aufschreckte, den ihm der Händler ins Gesäß gab. »Jet well!«, rief er mit rauer Stimme. Der Junge verstand ihn, ohne die Worte zu kennen, machte sich aus dem Staub, lief die Straße hinunter und sah wieder einen fremden Mönch auf sich zukommen, dem er aber nicht mehr ausweichen konnte. Zu seiner Überraschung grüßte ihn der Mann freundlich und wünschte ihm »bonum iter. Deus te adjuvet!«
Tristan erwiderte den Gruß nicht, ging weiter und wurde sich seiner Kleidung bewusst. Alle mussten ihn in seiner Kutte für einen Novizen halten. Sogleich fielen ihm auf der Straße Jungen auf, die in seinem Alter sein mochten, aber ganz gewöhnliche Hemden und Beinkleider trugen und von niemandem beachtet wurden. Diese Kleider sahen nicht viel anders aus als jene, die er unter seiner Kutte trug. Und so verdrückte er sich in eine Seitengasse, schlüpfte aus seiner zweiten Haut, band sie mit dem Strick, mit dem er sich umgürtet hatte, zu einem Bündel zusammen und war froh, nun ebenfalls eine scheinbare Last über seine Schulter werfen zu können und geschäftig zu wirken.
In der freien Hand hielt er noch immer einen Rest vom Kohlblatt, das er sich nach und nach in den Mund stopfte, weil er Hunger verspürte. Dabei betrachtete er die Leute, die ihm begegneten. Es waren meist Bauern oder Landfrauen, hier und dort ein Kind, Junge oder Mädchen. Nirgendwo sah er einen Reiter oder gar ein Pferd. Die Häuser entlang der Gassen erinnerten ihn an die auf Conoêl, und kaum hatte er diesen Vergleich angestellt, überfiel ihn eine Sehnsucht, auf
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