Tristan
Landschaft blicken konnten. Es war ein wunderbarer Ausblick. Durch die Wolken fluteten Sonnenstrahlen in einzelnen Bahnen wie ein Lichtfächer auf das Gelände vor ihnen hinunter und beleuchteten einzelne Waldstücke und bebaute Felder.
»Ich werde von diesem Ausblick eine Skizze anfertigen für deine Eltern«, sagte er zu Tristan, »und sie meinem nächsten Brief beigeben. Dann wissen sie, was wir gesehen haben.« Er zog sich mit seinem Heft auf einen höher gelegenen Abhang zurück, während sich der Junge unten auf dem Weg um die Pferde kümmerte. Doch statt etwas zu skizzieren, hielt Courvenal seine Gedanken fest. Erst waren es Merkworte, die er aufschrieb, Wörter für die Sprossen einer Leiter, der die seitlichen Holme noch fehlten. Iseult war dabei, Sonnenfinsternis, Wassergesichter, der Fluss fließt, ich bin nicht Tristan, Zauberei, wie viele Druiden? - dann fasste er seine Gedanken zusammen.
Wir sind nicht weit von Aachen, schrieb er, die Kaiserstadt ist von hier aus schon zu sehen, doch nur wenn man sie kennt. Auch Tristan, mein eleve, ist so weit von mir entfernt, dass ich ihn vor allem aus dem Abstand identifizieren kann. Komme ich ihm nahe, gibt er mir Rätsel auf. Es soll jetzt Augengläser geben, die helfen, etwas nahe zu sehen und klar, wenn es sonst verschwimmt. Der Blick ins Wasser. Tristan muss etwas anderes gesehen haben als sich selbst, etwas, worin er sich refugit. Aus dem Wasser kommen die Forellen. Die Bilder, die wir in der spiegelnden Oberfläche sehen, stammen aus uns selbst. Aber Tristan ist vielleicht nicht nur ein ego sum, sondern vielleicht auch noch ein anderer, der Tristan heißt. Das ego sum hat keinen Namen. Darin sind wir alle gleich.
Courvenal schloss sein Heft und verstaute seine Schreibutensilien wie immer mit äußerster Sorgfalt in seiner Ledertasche. Mit tastenden Schritten ging er den Hang hinab und entdeckte dabei ein großes Feld Erdbeeren. Die Früchte leuchteten wie Rubine zwischen dem Grün der Blätter hervor. Er rief Tristan, ihm bei der Ernte zu helfen, und sie sammelten einen ganzen Topf voll davon. Als sie weiterritten, hielt Courvenal den Topf vor sich auf dem Schoß. »Jetzt brauchen wir nur noch eine Ziege mit einem anständig gefüllten Euter - dann geht es uns besser denn je.«
»Und ein bisschen Rübensaft«, ergänzte Tristan, der sich von der guten Stimmung, in der sein Lehrer zu sein schien, anstecken ließ.
»In Aachen, du wirst sehen, gibt es das alles, sogar Schmant und geschlagene sön. Das sagen sie hier zu Sahne.«
»Und was ist Sahne?«
»Das ist etwas, das sich so anfühlt, als würde sich deine Zunge verflüssigen.«
»Und das gibt es nur in Aachen?«
»Das gibt es auf der ganzen Welt.«
»Wie groß ist die Welt?«
»Du wirst sie noch kennenlernen.«
Aachen - III - Umgekehrt
Wreil sie wie Pilger aussahen, wurden sie an den Grenz- und Zollstationen, die sie passieren mussten, weder durchsucht, noch wurden ihnen Gebühren abverlangt. Courvenal hatte alle Münzen, die er bei sich trug, in kleinen Beuteln in seinen Stiefeln gut versteckt, und da sie nur Waffen bei sich trugen, die ein jeder zur Selbstverteidigung brauchte, erweckten sie auch kein Misstrauen. Zumal der Knabe für den Mönch wie ein Schutzschild war, das ihn vor dem Verdacht schützte, ein getarnter Reiter oder gar Spion zu sein.
Courvenal musste an Weinand den Sänger denken. Von Anfang an hatte er zwar das Gefühl gehabt, dass mit dem Mann etwas nicht stimmte, dass aber ein Barde, ein Mensch, der sich der Kunst, des Wohllauts und der schönen Gedanken verschrieben hatte, zu einem Verräter seiner Kunst werden könnte, das war ihm bis zu dessen Ausweisung aus Conoêl nicht in den Sinn gekommen. Deshalb wehrte er sich innerlich immer noch dagegen zu glauben, der Sänger trage Schuld daran, dass Tristan und er verfolgt worden waren.
Da erreichten sie das Stadttor von Aachen. Der Junge und der Mönch mussten sich, wie die Torwärter sagten, einer inquisitio unterziehen und von ihren Pferden steigen. Die Lasttaschen Courvenals wurden untersucht, und man sah sogar den Pferden in die Ohren, um zu überprüfen, ob sie nicht eine unbekannte Krankheit in die Stadt einschleppten. Dann konnten sie weiterziehen durch die engen Gassen, immer mit Blick auf die Kuppel der Kirche, die alle Hütten und Häuser überragte.
Courvenal hatte Tristan auf ihrem langen Weg durch Flandern und Brabant alles erzählt, was er über die Reichsstadt wusste. »Karl der Große«, sagte er
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