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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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und Vorstellungen aufzuschreiben. Sie betrafen auch die intelligentia seines Schülers. Tristan hatte nämlich schon bald, nachdem sie losgezogen waren, damit angefangen, am nächtlichen Himmel dem Gang der Sterne besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Während Courvenal, wenn sie des Nachts reiten mussten, um voranzukommen, lieber den Blick nach vorn und nach unten richtete, um am Tritt der Pferde zu hören, ob sich der Boden veränderte, folgte Tristan zwar seinem Lehrer aufmerksam durch Hohlwege und über Straßen, verlor dabei aber nie die Sterne aus den Augen. Dann wies er, weil er noch keine Bezeichnungen für die Konstellationen am Himmel hatte, seinen Lehrer mehrmals daraufhin, dass sie sich jetzt zur linken Hand halten sollten, um geradeaus zu kommen.
    Dieser kaum neunjährige Knabe hatte immer recht. Courvenal bewunderte ihn deswegen im Stillen, fragte sich jedoch, wie es auf ihrer Reise weitergehen sollte. Viele Städte und Klöster, die der Mönch mit seinem Schüler besuchen wollte, waren ihm bekannt. Er war mehr als zwanzig Jahre über das Alter von Tristan hinaus und als Botschafter seines Ordens weit herumgekommen. Wegen dieser Weltkenntnis vor allem hatte Rual ihn geworben und verpflichtet und ihm viel Geld versprochen. Aber Lernen bedeutete ja nicht, überall gewesen zu sein, sondern den anderen Menschen zu erkunden, den, der man selbst nicht ist. Das betraf ungewohnte Umgangsformen und vor allem fremde Sprachen. Es schien, als wäre der Junge geboren worden, um sie alle zu lernen.
    Wie die Schwalbe die Mücken schnappte Tristan die Wörter der Leute auf, die sie am Wegrand, in den Herbergen, Klöstern oder kleinen Burgen trafen, und ging damit ähnlich geschickt um wie ein jüdischer Geldwechsler mit dem Wert verschiedener Münzen. Im Nu fand er sich, kaum hatten sie eine Grenze oder einen Zollbezirk überschritten, in dem fremden Sprachgebiet zurecht und fragte nach den Namen für die Dinge, die man im Alltag brauchte. Die Leute auf den Märkten und in den Kreuzgängen hinter den Kirchen mochten ihn auf Anhieb. Er lachte ihnen entgegen und sagte: Jeva de wolan vertrebe? Und jemand antwortete: Wedau de mila pandur. Courvenal verstand kein Wort, Tristan aber hielt auf die nächste Hausecke zu, hinter der es einen Verschlag gab, in dem frisches Wasser und Kräutertee angeboten wurde. Das war es, was er hatte wissen wollen.
    Als sie in Aachen einritten und auf den engen Platz vor der Marienkirche gerieten, verstummte der Knabe. Er stieg vom Pferd und kniete sogar nieder, senkte den Kopf in Andacht und tastete dann mit den Augen staunend die Maße der Kathedrale ab. Courvenal knurrte der Magen, er achtete die Ehrfurcht des Knaben gegenüber dem Bauwerk, befand aber seine andächtigen Blicke als übertrieben. Nicht einmal die strenggläubigen teutonischen Pilger verhielten sich so. Doch er sagte nichts dazu, trieb Tristan nur an, dass sie noch im nahe der Kirche liegenden Kloster um Unterkunft bitten mussten, und versprach ihm, wenigstens einen Monat in dieser Stadt zu bleiben. »Es wird also«, sagte er zu dem auf dem mit Stroh bedeckten Platz knienden Jungen, »noch genug Gelegenheiten geben, alles kennenzulernen. Da es bald dunkel wird, sollten wir uns rasch einen Platz im Kloster sichern, auch um noch vor dem Abendgebet etwas in unsere Mägen zu bekommen.«
    Tristan gehorchte. Er folgte seinen inneren Bedürfnissen ebenso widerspruchslos wie den Anweisungen seines Mentors, stand sofort auf und ritt mit Courvenal zu der seitlich gelegenen Abtei. Auch er genoss die Krautsuppe, die aufgedeckt wurde, erfuhr von einem der servierenden Mönche, dass ein Gewürz dabei war, das er nicht kannte, nämlich Kümmel, und begann im selben Moment, deutsch zu sprechen. Er hörte zu, wiederholte, fragte nach und sagte dann: »Wir sind aus Parmenien.« Cornelius, der Ministrant, der ihm die Suppe in den Teller gefüllt hatte, ließ vor Überraschung den Holzlöffel in den Topf fallen und rief aus: »Ein Genius!«
     
    Imperator ~ 112 ~ »Abu l’ Abbas«
     
    Mehr als vierzig Tage blieben Courvenal und sein Schüler in dem Kloster, dessen Mönche gerade mit einem Anbau beschäftigt waren. Tristan hielt sich oft im alten Scriptorium auf und sah den Mönchen dabei zu, wie sie im Mörser Goldplättchen verrieben, um Tinte herzustellen, mit der sie Vignetten ausmalten. Er fand, dass es schön war, was sie da taten, sagte beatus dazu, und die Mönche lobten ihn, weil er die Mönche lobte. Doch wie er die Männer in ihren

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