Tristan
Komm jetzt endlich von dem Teich weg. Warum starrst du denn dauernd ins Wasser? Und wirf die Beeren fort, die du gesammelt hast. Die kann man nicht essen. Sie sind viel zu sauer.«
Courvenal drehte sich mit seinem Pferd zweimal um sich selbst. Manchmal machte ihn der Junge mit seinem eigenwilligen Verhalten regelrecht wütend. Tristan war nicht bockig oder unfolgsam, er war oft nur verträumt. Andererseits war Courvenal froh, dass ihre Reise nach dem Überfall gut verlaufen war. Zum Glück waren sie damals nicht allzu weit entfernt von einem Kloster in Flandern gewesen, dort hatte man ihnen ausgeholfen, sodass sie jetzt wieder ein Zelt und alle Utensilien besaßen, die sie für ihren Ritt brauchten. Außerdem trugen sie neue Kleider: Courvenal eine braune Kutte mit einer Jacke und Tristan eine Halbsoutane aus dichtem gebleichten Leinen. Dem Jungen gefiel seine Kleidung nicht. Doch nun sahen sie tatsächlich wie zwei Pilger aus, denen die Leute, die sie auf ihrem Weg trafen, gerne weiterhalfen.
Courvenals Reiseplan hatte sich durch den Überfall um mehrere Tage verschoben, doch nicht einmal das wusste er genau, weil ihm sein Kalender abhandengekommen war. In den auf das Ereignis folgenden Tagen hatte er zwar versucht, diesen Plan in seinem neuen Heft zu rekonstruieren, und Tristan hatte ihm dabei mit großem Interesse über die Schulter geschaut. Ob er aber ihre Reiseroute wieder den Gegebenheiten, Orten und Jahreszeiten so genau anpassen konnte, wie er es auf Conoêl mithilfe der Bücher und compendien getan hatte, blieb fraglich. Auf jeden Fall hatte er mit viel Mühe versucht, seinen Schüler dazu anzuhalten, nicht zu trödeln, damit sie die verlorenen Tage aufholen konnten. Doch Tristan lebte mit einer Unbekümmertheit weiter, die seinen Lehrer oft erstaunte.
Als der Junge mit seinem Pferd, das er wie seine Bucht »Hegennis« nannte, zu Courvenal aufgeschlossen hatte und sie weiterreiten konnten, fragte ihn der Mönch: »Was siehst du da immer, wenn du dich über stehendes Gewässer beugst.«
»Ein Gesicht«, sagte Tristan leise.
»Natürlich!« Courvenal musste lachen. »In der spiegelnden Oberfläche des Wassers sieht der Mensch sich selbst. Das hat schon Ovid in seinen metamorphosis beschrieben und den narzissus erschaffen, der sich so sehr in sein Abbild vergafft, dass er daran zugrunde geht.«
»Tristan sieht sich nicht selbst.«
Als Tristan dies beinahe tonlos sagte, zog Courvenal unwillkürlich die Zügel seines Pferdes an, sodass es verharrte. Tristan ritt an ihm vorbei. »Was siehst du dann?«, rief Courvenal in seinen Rücken. »Eine puella.«
»Ein Mädchen? - Kennst du sie? Jemand von Conoêl? Wie sieht sie aus?« Courvenal war wieder gleichauf mit Tristan.
»Tristan kennt sie nicht. Wie sie aussieht? Sie hat Haare, als würde die Sonne aus ihnen scheinen. Wenn sie das Gesicht wendet…«
»Du siehst im Wasser, wie sie das Gesicht wendet?«
»Erst sieht sie ihn an, dann dreht sie den Kopf zur Seite und ruft etwas.«
»Was ruft sie?«
»Nach ihrer Mutter.«
»Und ruft sie die Mutter…« Courvenal verstummte. Dieses Gespräch wurde ihm unheimlich. »… beim Namen?« Er ritt wieder voran, als wollte er die Antwort nicht hören.
»Tristan glaubt, ihr Name war Iseult. Sie wurde geboren, als die Sonne sich verfinsterte«, sagte Tristan gedankenverloren und ritt an Courvenal vorbei, als wäre er gar nicht da.
»Tristan!«, fuhr ihn sein Lehrer mit scharfer Stimme an.
Sofort zügelte der Junge sein Pferd.
»Weißt du noch, was du eben gesagt hast?«
»Ich habe nichts gesagt. Ich habe nur darüber nachgedacht, warum alle Pilger, denen wir auf unserem Weg begegnen, in die entgegengesetzte Richtung ziehen. Alle reiten oder gehen nach Westen, wir aber nach Osten. Was hat das zu bedeuten?«
Courvenals Gedanken ~110~ Geschlagene Sön
Courvenal spürte, dass mit dem Jungen etwas geschah, was er weder beherrschen noch beeinflussen konnte. Wie mit einem Zauber belegt, schien er Dinge oder Gesichter zu sehen, die nur vor seinem inneren Auge existieren konnten. Zu oft war nun der Name Iseut, Iseult, Isôt oder Isolde in seiner Gegenwart gefallen, als dass es sich um einen Zufall handeln konnte. Und dass Tristan wieder einmal von sich wie über eine andere Person gesprochen hatte, erschreckte Courvenal. Er ritt eine Weile vor Tristan her, dann machte er an einer Wegbiegung halt und stieg vom Pferd. Sie waren auf einer Anhöhe angelangt, von der aus sie über eine von Hügeln bestimmte
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