Tristan
Kutten so dasitzen sah, über die Pergamentblätter gebeugt mit den Dachshaarpinseln malend, langweilte es ihn schon nach dem ersten Tag, ihnen dabei zusehen zu müssen. Courvenal hätte Tristan gern für die Kalligrafie und die Kunst des Buchschmucks begeistert, aber er merkte bald, dass diese stille Tätigkeit nicht zum Temperament des Jungen passte. Am liebsten saß er an einem Fenster auf der Galerie des Scriptoriums und verfolgte von dort das Leben in der darunterliegenden Gasse.
»Wann gehen wir endlich in die Kaiserkirche?«, fragte er Courvenal immer wieder bei ihren Zusammenkünften im Refektorium.
»Wenn du kannst, was du hier lernen sollst.«
»Ich lese, was mir die Brüder zu lesen geben, vor allem die Geschichte Jesu, das Alte Testament und die Aeneis. Als ich ein Bestiarium mit auf meinen Platz nehmen wollte, hat mir Frere Gregor das Buch wieder abgenommen, das sei nicht gut für mich. Stattdessen sollte ich Pulver für Farbtinte anrühren. Aber ich kann doch nicht den ganzen Tag nur beten, den Mönchen beim Malen zusehen und die Bibel lesen!«
»Das machen die Mönche auch«, entgegnete Courvenal ruhig.
»Ich bin kein Mönch, und ich will auch keiner werden.« Tristan schmollte und blickte auf seinen leeren Holzteller.
»Was willst du denn werden?«
»Ein Reiter oder ein Barde, am liebsten ein König.«
»Warum nicht gleich ein Imperator?« Courvenal musste lachen.
»Dann darf ich wenigstens in die Kaiserkirchen hinein wie Charlemagne oder Barbarossa.«
Eine Glocke läutete und zeigte an, dass die Nachmittagsarbeit begann. Courvenal folgte dem Abt zu Gesprächen mit einem Architekten ins Haupthaus, Tristan ging in die Bibliothek neben dem Scriptorium, um sich ein Buch auszusuchen. Die weltlichen und profanen Folianten waren auf dem Rücken mit einem roten Punkt gekennzeichnet, die seien nichts für allzu junge Herren, hatte Gregor gesagt. Frere Gregor war für Tristan in den Buchwerkstätten des Klosters zuständig. Sein Körper war rundlich, seine leicht geschwollenen Finger waren immer voll mit Farbflecken und konnten mit großer Schnelligkeit die Feder führen.
Gregor war der beste Kopist des Klosters und kontrollierte alle Arbeiten seiner Mitbrüder. Jedes Buch, das Tristan sich von einem Regal holte, inspizierte er erst, nickte dann mit dem Kopf oder bat ihn freundlich, es wieder zurückzustellen und sich ein anderes auszusuchen. Als der Junge einmal die Kopie eines speculum für Land- und Lehnrecht anschleppte, ohne zu wissen, was er da in den Händen hielt, sagte Gregor schmunzelnd: »Das ist zwar noch nichts für dich, doch das wirst du schnell selbst feststellen und es von ganz allein wieder wegbringen. Es ist das uninteressanteste Buch, das du dir aussuchen konntest, denn es hat nicht einmal Bilder. Das ist wie Wein ohne Geschmack. Aber geh nur und lese darin.«
Diese Worte enttäuschten Tristan so sehr - und zugleich schämte er sich seiner Unwissenheit -, dass er das Buch am liebsten gleich weggelegt hätte. Aus Trotz begann er gleichwohl, darin zu blättern, und schlug eine Seite auf, die er mit Geduld entzifferte und den Worten nach verstehen konnte, ohne jedoch den Sinn des Ganzen herauszufinden, denn da stand:
»Nun seht, wie oder wo die Verwandtschaft beginnt und endet. Am Kopf sind Mann und Frau zu sehen, die ehelich und rechtmäßig zusammengekommen sind. Am Glied des Halses ihre Kinder, die ohne Halbbürtigkeit von Vater und Mutter geboren sind. Besteht da Halbbürtigkeit, so können sie nicht an einem Glied stehen und rücken in ein anderes Glied. Nehmen zwei Brüder zwei Schwestern und der dritte Bruder eine fremde Frau, ihre Kinder sind doch gleich nahe, dass ein jeder des anderen Erbe nehme, sofern sie ebenbürtig sind. Vollbürtige Bruderkinder, die stehen an dem Glied, wo Schulter und Arm zusammengehen. Das Gleiche gilt für die Kinder der Schwester. Dies ist der erste Verwandtschaftsgrad, den man zu den Vettern rechnet: Bruderkind und Schwesterkind. Am Ellenbogen steht der zweite, am Handgelenk der dritte, an dem ersten Glied des Mittelfingers der vierte, an dem zweiten Glied der fünfte, an dem dritten Glied der sechste. An dem siebten steht ein Nagel und nicht ein Glied. Darum endet hier die Verwandtschaft mit dem Nagelmagen. Diejenigen, die sich zwischen dem Nagel und dem Kopf an gleicher Stelle zur Verwandtschaft rechnen können, nehmen das Erbe zu gleichen Teilen.«
Tristan schrieb sich diesen Text auf ein Blatt ab, das ihm Gregor gegeben hatte, eine
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