Tristan
die Königin ihn nannte, oder sogar ein Oberster, ein ollam, bedeutete für Brangaene nichts, Hägon war einfach nur ihr Vater. Nur dass er eine besondere Funktion am Hof der Königin einnahm, hatte sie längst verstanden. Er musste am Tage nicht arbeiten, und in der Nacht, wenn alle schliefen, begann er mit den Geistern zu reden, die außer ihm niemand sehen konnte. Obwohl Brangaene daran gewöhnt war, dieses sonderliche Verhalten als ein alltägliches zu empfinden, freute sie sich, sobald sie bei der kleinen Isôt wieder am Fußende des Lagers schlafen konnte und sich in ihren Gedanken damit abfand, dass sie ewig einem Kind dienen würde, selbst wenn es eines Tages wie sie selbst erwachsen wäre.
Der blinde Samen ~ 119 ~ Ein Stein aus Licht
Isolde merkte schnell, dass Brangaene ihr keine Neuheiten über den »roten Stern« und seine Bedeutung mitteilen konnte. Das enttäuschte sie kaum, sie liebte die Sterne nicht. Ewig schienen sie am Himmel zu kreisen, immer in gleicher Formation, während unten auf der Erde und auf ihrer Insel die Kriege wüteten und Menschen starben, für sie wichtige, wunderbare Menschen, ohne dass deswegen ein einziger Stern seine Position verändern würde.
Aber Hägon hatte mit seiner Prophezeiung, dass in sieben Jahren, wenn der rote Stern wieder verlöschen würde, ihrer Tochter Isôt und ihrem Land ein Unheil geschähe, den Samen des Zweifels und der Unruhe in sie eingepflanzt, der zu keimen begann, je mehr dieses erste Jahr sich dem Ende zuneigte. Als Gurmûn, ihr Mann, sich für ein paar Tage wie zur Rast während seiner endlosen Fehden mit den Nachbarfürsten am königlichen Hof aufhielt, hatte Isolde versucht, ihm von den Vorgängen zu erzählen. Doch er wollte nichts von solchen Kindereien wissen. Er ließ Isôt kommen, sah ein fröhliches Kind vor sich, wusste es bei Brangaene in guten Händen und sagte seiner Frau, am Himmel gäbe es keine roten Sterne, aber auf der Erde, die er mit seinen Mannen betrete, würde sich das Wasser der Bäche oft verfärben. Am nächsten Morgen nach einer Nacht, in der er Isolde seine ganze männliche Kraft bewiesen hatte, zog er wieder mit seinen Reitern davon.
Ja, er hat mir gezeigt, was er noch kann, dachte Isolde nach dem Abschied, sie spürte aber, dass die kleine Isôt ihr einziges Kind bleiben würde. Der Samen, den ihr Gurmûn gab, war blind geworden. Sie wusste es nicht, sie spürte es. Seit vier Jahren hatte sie kein Kind mehr von ihm empfangen. Nach jedem Halbmond blutete sie und zog sich für ein paar Tage zurück auf ihr Lager, aß wenig, ließ sich Wasser bringen und manchmal auch Gerstenschleim, um die Schmerzen in Kopf und Nacken und die Krämpfe in ihrem Leib zu beruhigen. In diesen Stunden saß sie oft dösend am Tisch vor einer halb leer gegessenen Schüssel mit zerstoßenen Körnern oder gehacktem Fleisch, schaute auf die auf einem Sims stehenden kleinen Gegenstände, Widderköpfe oder Schlangen, um einen Ast gewunden, alles aus Knochen geschnitzt. So fiel ihr Blick auch auf das danebenliegende Papyrusheft, das der Knecht als Beweis mitgebracht hatte. Sie blätterte darin und blickte auf die letzten Seiten, von denen ihr Benedictus gesprochen hatte, sie enthielten einen Reiseplan. Zu sehen war ein Kreis, der mit rotbrauner Farbe gefüllt war. Daneben und darunter standen offensichtlich schnell notierte Wörter, die sie nicht verstand. Sie schickte nach Benedictus, der ihrem Befehl sogleich folgte.
»Was bedeutet das, was steht hier geschrieben?«, fuhr sie den Mönch an, als hätte er etwas Unrechtes getan.
»Das habe ich Euch schon einmal erklärt«, sagte er.
»Ich kann mich nicht erinnern!«
»Die Frauen!«, sagte Benedictus leise - und für seine Königin vernehmlich: »Es bedeutet etwas sehr Kompliziertes. Da steht daneben geschrieben: Stella fulva oder rufa - roter Stern.«
Isolde erschrak, stand auf, fasste sich in die Haare und forderte den Mönch auf, ihr alles zu übersetzen, was auf dem Blatt geschrieben stand.
Benedictus deutete an, dass er sehr durstig sei. Isolde lies birra kommen, wie der Mönch das curm nannte, und für sich selbst einen Kelch Obstwein. Dann sah sie Benedictus über die Schulter und hörte zu, wie er ihr Wort für Wort auf dieser Seite übersetzte. Ein roter Stern, hieß es da, würde am Firmament auftauchen und sieben Jahre für alle sichtbar am Himmel stehen, bis die Reise ans Ende käme.
»Was für eine Reise?«
»Ich nehme an, die Reise des Sterns«, sagte Benedictus und nahm
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