Tristan
der Hand, ging mit ihr nach draußen und ließ sie in den Sternenhimmel schauen, damit sie dort die Konstellation der Punkte auf der gelbfleckigen Fläche des Pergaments in der Ordnung der Sterne am weiten Bogen und in der Schwärze des Himmels wiederfand. Wenn ihr das manchmal in der tiefdunklen Nacht, vor Kälte zitternd am ganzen Leib, gelang und sie mit dem Finger darauf zeigen konnte, hob er sie vom Boden auf, drückte sie an sich und küsste sie sogar.
Diese außergewöhnliche Belohnung, die ihr schweigsamer Vater sonst keinem seiner fünf Kinder zuteilwerden ließ, spornte Brangaene so an, dass sich ihr Blick in der Wiedererkennung der Punkte auf dem Blatt schulte. Um ganz sicher zu sein, markierte sie die in der Nacht gesehenen Zeichen am Tag bei der Hütte in den Sand oder in feuchte Erde, verwischte sie aber sofort wieder, wenn sich ihr jemand näherte. So merkte sie sich nicht nur die Konstellation der Sterne am Himmel, sondern auch die anderen Figuren, die ihr Vater aufschrieb, gerade und geschwungene, senkrechte und waagerechte Striche, zu denen er leise Worte murmelte, die den Sinn dieser Zeichen in einen Singsang übertrugen. Noch bevor Brangaene im neunten Lebensjahr stand, beherrschte sie die Sprache des Vaters in der Schrift und konnte von ihr ohne große Mühe die Schrift anderer Sprachen ableiten.
Da sie zudem ein freundliches Wesen hatte und seit ihrem dreizehnten Lebensjahr das Vertrauen der Königin genoss, war sie öfters auch bei den Mönchen in ihren steinernen Bauten, um Nachrichten der Königin zu übermitteln. Dort kam sie zum ersten Mal mit dem Lateinischen in Berührung. Benedictus, der den Mönchen als Abt vorstand, war begeistert, als er entdeckte, welche Fähigkeiten Brangaene besaß. Er weihte sie ins Lateinische ein. Insgeheim erhoffte er sich dadurch, dass dieses einfache Mädchen ihm eine Tür zu dem widerspenstigen irischen Königshaus von Gurmûn und Isolde würde öffnen können, damit er ihnen die Worte Christi näherbrachte. Bei der jungen Brangaene bewirkte allein schon der Name »Heilige Schrift« für ein dickes Buch, welches ihr der Abt zeigte, dass sie das Zeichnen von Lettern und Symbolen für etwas Übernatürliches hielt. Wenn sie dann selbst »schrieb« und »zeichnete«, kam es ihr vor, als bekäme sie Macht über anderes und, was sie sah, einen Wert, der über das eigene Leben zu stellen war.
Als sie die Zofe der Königin wurde, erfüllte sich ihr Dasein zudem noch mit Stolz, auch wenn sie in der Burg manchmal schreckliche Dinge miterleben musste. Denn Isolde stritt sich oft mit ihrem Königsgemahl, sie erbrach sich häufig nach dem Essen und verrichtete ihre Notdurft nicht selten in ihre Kleider, weil sie zwar den nur fürs Urinieren bestimmten Abortus benutzte, es aber ablehnte, zur von den Mönchen eingerichteten latrina zu gehen. Brangaene musste die verschmutzten Kleider einsammeln und die Königin baden, die Eimer mit heißem Wasser ins Gemach schleppen, damit niemand davon Kenntnis bekam, dass die Königin nicht wie alle ihre anderen Untergebenen zum Koten aufs Feld gehen konnte oder an den nahen Waldrand.
Wichtig war es für Isolde, Brangaene in die Kräuterkunde einzuweihen, aber nicht als Lehrmeisterin. O nein! Isolde ging es nur darum, nicht selbst in den Wald und auf die Wiesen zu gehen, um die Kräuter einzusammeln. Sie brauchte jemanden dafür, jemanden, dem sie vertrauen und der - wie Hägon, der Druide - schweigen konnte. Diese vielfältigen Fähigkeiten, schweigen zu können, der Schrift mächtig zu sein und zugleich den Unrat einer Königin zu entfernen, als sei nichts geschehen - diese Begabungen hielten Brangaene am Leben und bescherten ihr später das Glück, Isoldes Tochter zu Diensten zu sein.
Sie liebte dieses Mädchen von seinen ersten Lebensjahren an und schwor sich, alles für sie zu tun, was ihre Kräfte ihr erlaubten. Es war das erste Mal, dass sie die Unschuld eines Kindes wertschätzen lernte und staunend und bewundernd eine Lebenszeit begleitete, die sie selbst nie gehabt hatte, eine Kindheit, die vornehmlich aus dem Umgang mit schönen und angenehmen Dingen bestand.
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Der rote Stern ~117~ Isolde, Isôt
Isolde, die kleine, von allen nur Isôt genannt, mit einem lang- und hochgezogenen »I«, lebte in einer von Sorgen unberührten Welt, bis sich eines Tages, als sie im achten Lebensjahr stand, Hägon bei der Königin angemeldet hatte, um ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. Der Mann mit dem langen wallenden Bart, den er
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