Tristan
Knochen, Hölzer, Muscheln, eiserne Stifte, abgebrochene Pfeilspitzen, den Schaft einer eisernen Lanze, einen steinernen Ring, der wohl einmal einer Frau gehört hatte, eine Schleuder und Vogelfedern, die er so liebte, weil man damit Wind machen konnte. Eine Zeit lang hatte er deswegen wirklich geglaubt, dass die am Himmel fliegenden Vögel den Wind erzeugten.
An diesem späten Vormittag, nach der Begegnung mit Morgans Soldaten, legte er die goldene Kugel zu den anderen Dingen in die Kiste. Die Kugel war ihm unheimlich geworden. Nicht weil sie Darragh umstimmte, sondern weil sie ihm befohlen hatte, die Hand zu öffnen. Wie ein kleiner Ball hatte sie sich darin gedreht, aus eigener Kraft. Sie musste von einem Geist beseelt sein. Tristan wollte sie loswerden. Auf dem Weg zu seinem Versteck wog sie immer schwerer in seiner Hand, bis er sie mit beiden Händen vor sich her tragen musste wie ein Schmied ein Stück Eisen. Gleich einem Felsstein legte er sie in die Kiste und schloss erleichtert deren Deckel. Dabei war ihm, als hätte er einen Seufzer gehört - es war wohl sein eigener gewesen.
Er blieb im Verschlag, bis sein Name gerufen wurde. Man suchte ihn. Als die Stimmen verklangen, wagte er sich aus dem Versteck hervor. Draußen dämmerte es bereits. Er schlich an der Mauer entlang und hörte plötzlich, und diesmal ganz nah, erneut seinen Namen: »Tristan!« Rasch duckte er sich hinter einen Strauch. Er erkannte die Stimme Linnehards. Doch als er sich aufrichtete, um besser sehen zu können, war der Hauptmann nirgendwo zu entdecken. Bis Tristan seinen Kopf sah. Es war, als steckte er in der Erde. Tristan duckte sich und blickte an den Ästen des Strauchs vorbei. Linnehard stieg zwischen den Grasbüscheln mehr und mehr aus der Erde heraus, stand schließlich ganz aufrecht und rief erneut nach Tristan.
Über den schmalen Pfad, der entlang der Burgmauer führte und den Soldaten als Fußweg diente, wenn sie Wache hielten, kam Tristans Mutter gelaufen. Tristan duckte sich tief ins Gebüsch zurück.
»Hier ist er nicht«, hörte er Linnehard sagen, und dann, mit leiser Stimme: »Ich glaube auch nicht, dass er den geheimen Austritt aus der Burg kennt. Wir müssen woanders suchen. Vielleicht ist er bei den Melkerinnen. Dort ist er gern, wenn er nicht mit Edwin oder den anderen Jungen spielt.«
Floräte sagte daraufhin etwas, was Tristan nicht mehr verstand, denn sie hatten sich schon auf den Weg zum Burghof gemacht. Tristan schlich ihnen nach, bis ihre Wege sich verzweigten. Unbemerkt gelangte er in die Kemenate, in der sein Bett stand, und setzte sich dort bei der Tür in eine Ecke. Als Merla das Zimmer betrat, fragte er die Magd, gerade als sie an ihm vorbeiging, nach dem Essen.
»Mein Gott, junger Herr, hast du mich erschreckt!« Sie legte die Hände vor die Brust und sah ihn mit großen Augen an. »Weißt du denn nicht, dass man dich überall sucht?«
Fieber ~17~ Ruals Rückkehr
Alle waren erleichtert, dass Tristan unversehrt wieder aufgetaucht war. Flroräte weinte vor Freude und aus Sorge. Obwohl er beteuerte, immer nur in der Burg gewesen zu sein, bestürmte sie ihn mit Fragen. Denn ihre schlimmste Befürchtung war gewesen, dass dieser grobschlächtige Hauptmann Darragh Tristan mitgenommen und ihm etwas angetan hätte. Einen halben Tag war der Junge weg gewesen, die ganze Burg hatten sie nach ihm durchsucht, zwei Reiter hatte sie ausgeschickt, um die Wege zu kontrollieren, doch keiner hatte ihn gesehen.
»Sag mir, wo du gesteckt hast!« Floräte bat ihn flehentlich. Tristan gab ihr schließlich zur Antwort: »Im Großen Saal.« Es war ihm einerlei, was seine Mutter über ihn dachte. Unter keinen Umständen wollte er sein Versteck preisgeben und verraten, was er gesehen hatte.
Floräte legte ihre Hand auf seine Stirn und fühlte gleich, Tristan müsse Fieber haben. Sie wies Merla an, Veilchenwasser zu holen und Katzenkrauttee zu kochen, damit das Fieber gesenkt würde und die Unruhe aus dem Jungen wich. An alldem gab sie Darragh die Schuld, auch wenn sie nicht verstand, warum der Hauptmann von seinen Forderungen abgelassen hatte und davongezogen war. Doch nun fragte sie nicht weiter danach, froh darüber, dass Tristan gefunden war. Sie sah noch zu, wie Merla ihn zu Bett brachte, und wollte sich gerade in ihr eigenes Zimmer zurückziehen, als sie die Nachricht erreichte, Rual sei nicht weit vom Tor der Burg und schwer verwundet.
Der Hinterhalt ~ 18 ~ »Schlaf, mein Liebster, schlaf!«
Tristan
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