Tristan
durfte seinen Vater nicht sehen. Zwei Tage musste er auf seinem Lager liegen bleiben, so lange hielt das Fieber an. Merla pflegte ihn, brachte nasse Tücher, getränkt mit Extrakten aus Wurzeln und Blüten, und legte sie ihm auf die Brust, damit das kleine Herz langsamer schlage. Immer wieder flößte sie ihm Katzenkrauttee ein, zu essen bekam er Brei aus Dinkel und wildem Hafer. Auch Floräte besuchte ab und zu ihren kleinen Jungen, aber die meiste Zeit verbrachte sie bei ihrem Mann. Um zwei Kranke zugleich musste sie sich kümmern.
Rual hatte den Angriff von El Binin, einem aragonischen Raubritter, bei Ladonc im südöstlichen Grenzgebiet Parmeniens abwehren können. El Binin war überall bekannt. Er zog mit seiner Truppe gern zu unbewehrten Dörfern, nahm sich die Frauen, Vieh und Getreide und verschwand mit seiner Beute. Der französische König duldete ihn, solange El Binin sich an fremdem Gut bereicherte und nicht an dem seiner Lehnsmänner. Wer es mit ihm zu tun bekam, hatte oft das Nachsehen, denn der Ritter und seine Leute waren unberechenbar. Sie zogen durch die Wälder, kampierten in Verstecken und schlugen aus heiterem Himmel zu. Die zu Hilfe gerufenen Truppen kamen immer zu spät, ritten ratlos und voll ohnmächtigen Zorns in die geplünderten Dörfer ein.
Doch dieses Mal war Rual gewarnt worden. Einer seiner Späher hatte El Binins Leute entdeckt und belauschen können. Und als der Hinterhältige ins Ladonc einfiel, war Rual mit seinen Mannen schon da gewesen, hatte Gesinde und Bauern in Sicherheit gebracht und sich in den Hütten verschanzt. Die ersten davon fielen Binins Brandpfeilen zum Opfer, ein paar Schweine wurden aufgespießt, nichts regte sich sonst, nur Kindergeschrei war zu hören, das einige gut versteckte Jungen aus dem Weiher zur Täuschung anstimmten - Binin sollte sich sicher fühlen. Übermütig und gierig ritt er in das Dorf ein, brüllte Befehle zu den verschlossenen Hütten hin und verlangte nach dem Dorfältesten. Der sollte auf Knien bis vor Binins Pferd rutschen und um Gnade bitten mit erhobenen Händen, sonst würden sie ihm abgeschlagen. »Komm raus, elender Parmenier«, rief er, »zeig dich, feige Missgeburt!«
Einen Augenblick lang trat Stille ein, nur die Pferde schnaubten und scharrten ungeduldig mit den Hufen im Sand. Da trat Rual ganz allein aus einer der Hütten, eine Armbrust im Anschlag. El Binin, selbst nur hinterhältiger Gedanken fähig, entdeckte sofort die Falle und ahnte, wer ihm da gegenüberstand, ohne dass er Rual bisher zu Gesicht bekommen hatte. Er warnte seine Leute, ließ sich auf den Hals des Pferdes fallen und entging so Ruals Pfeil, der ihn töten sollte.
»Floräte, glaub mir«, sagte Rual, als er ihr auf dem Krankenlager von dieser Begegnung mit hastigen Sätzen erzählte, »ich würde mein Land und mein Volk bis zu meinem letzten Tropfen Blut verteidigen, aber ich bin es nicht und ich werde es nie sein - ein guter Krieger.«
Geschwächt von den vielen Wunden, die er im Kampf mit El Binin davongetragen hatte, sank er aufs Lager zurück, Floräte beruhigte ihn mit leisen Worten und wischte ihm den Schweiß von Stirn und Wangen.
»Dieser Teufel«, kam es Rual noch über die vom Wundfieber aufgerissenen Lippen, und er ergab sich der Ermattung und seinen Erinnerungen, hob müde den Arm, ballte die Hand zur Faust, in der er noch einen Tag zuvor sein Schwert gehalten hatte. Schäumend vor Wut über den fehlgeschlagenen Angriff, den ins Leere geschossenen Pfeil, hatte er sich dem geharnischten Räuber in den Weg gestellt und dem heransprengenden Ross einen Schwerthieb in die Flanke versetzt. Das Pferd bäumte sich auf, El Binin verlor den Halt und stürzte zu Boden. Augenblicke lang durchflog Ruals Gedanken das Bild seiner unritterlichen Tat, sich an einem Pferd vergriffen zu haben, da stand schon wieder El Binin vor ihm, der ihn um einen Kopf überragte. Mit der Verzweiflung des Schwächeren stürmte Rual ihm entgegen und trat ihm gegen das nach vorn gestreckte Knie, als El Binin gerade zum Hieb ausholte. Ein Schrei durchschnitt die Luft, der fremde Ritter fiel wie ein Sack zu Boden, krümmte sich, und Rual stieß ihm sein Schwert in den Leib. Im selben Augenblick spürte er Schläge in seinen Rücken, gegen die Schulter und auf den Kopf. Er sah noch, wie sich sein Handschuh mit Blut füllte, drehte sich im Kreis und fuchtelte mit dem Schwert wild um sich, traf und wurde getroffen, kämpfte und tötete, bis er nicht mehr konnte und ohnmächtig
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