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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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also zu früh gekommen?«, fragte er ruhig.
    »Zu früh, zu spät - was geht dich das an. Ich bin gekommen, wenn ich da bin.« Darragh sah sich zu den anderen Männern um. »Warum spreche ich hier eigentlich mit einem Zwerg?« Die Männer lachten, nachdem er den Satz in ihrer Sprache wiederholt hatte.
    Tristan merkte sich das Wort für Zwerg und sagte: »Ich bin kein midwiget, ich bin der Vertreter des Marschalls. Zinsabgaben erfolgen immer am Ende des Monats. Kommt wieder, wenn es so weit ist.«
    »Jetzt reicht’s!« Darragh knallte den Becher auf den Tisch und stand so unbeherrscht auf, dass sein Stuhl umkippte und polternd zu Boden fiel. Mit der Hand am Griff des Dolches trat er auf Tristan zu und überragte ihn wie ein Riese. »Willst du mir Vorschriften machen?«, brüllte er, und Tristan spürte, dass winzige Speicheltröpfchen wie ein Nieselregen auf ihn niedergingen. Er wischte sich mit seiner freien Hand übers Gesicht, den linken Arm hielt er immer noch im Schutz seines Rückens. Darragh kam noch einen Schritt näher und stand jetzt so dicht vor Tristan, dass er ihn mit dem Knie hätte wegstoßen können. Tristan spürte die Bedrohung, auch weil sich die drei anderen Männer hinter ihrem Hauptmann aufgestellt hatten.
    Da holte er die Kugel hinter dem Rücken hervor. Doch was er nun mit ihr tat, geschah nicht nach seinem Willen. Die Hand gehorchte der Kraft der Kugel, öffnete die Finger, die um sie lagen, und streckte den Arm des Kindes den Soldaten entgegen. Die Kugel lag auf dem Handteller und begann, gleichsam auf der Stelle zu rollen. Das Licht der Lämpchen fing sich in ihrer spiegelnden Oberfläche und warf feine Strahlen in den Raum zurück.
    Darragh und die anderen starrten auf die Kugel, sie wichen zur Seite. Die drei Soldaten des Hauptmanns fanden sich wieder zu einer Gruppe zusammen, während Darragh den Stuhl aufhob, sich setzte, den umgefallenen Becher in die Hand nahm und aus dem Krug Bier eingoss. Niemand sagte ein Wort, und in dieser Stille schlossen sich die Finger des Knaben um den glänzenden Ball, der Arm drehte sich wie bei einem Tänzer langsam nach hinten, die Hand verschwand in seinem Rücken.
    Darragh hatte seinen Blick von Tristan abgewandt, er schaute in den Becher, als würde er überlegen, nahm einen Schluck, dann stand er auf und sagte: »Ihr habt recht, junger Herr. Wir sind zu früh gekommen. Habt Dank für Eure Gastfreundlichkeit.« Er machte eine leichte Verbeugung vor Tristan, rief seinen Leuten ein »Los, wir gehen!« zu und verließ mit seinen Soldaten den Saal.
    Tristan verharrte unbewegt auf seinem Platz, hörte die Tür zuschlagen und wieder aufgehen, Floräte und Hauptmann Linnehard kamen hereingelaufen und wollten von Tristan wissen, was vorgefallen war. »Warum ist Darragh, dieser Teufel, so schnell wieder verschwunden? Tristan, was hat er gesagt?«
    »Er kommt am Ende des Monats wieder.«
    »So sind die Abmachungen. Aber sonst kommt er, wann es ihm passt. Und manchmal holt er sich zweimal den Zins, einmal für Morgan und einmal für sich selbst. Niemand kann sich ihm in den Weg stellen, selbst Rual nicht! Aber warum ist er dann heute wortlos weggeritten?« Floräte sprach noch eine Weile weiter mit Linnehard. Beide merkten nicht, dass Tristan sich davongeschlichen hatte, und später kam es Floräte so vor, als wäre er gar nicht bei ihnen gewesen.
     
    Das Versteck ~16~ Der Kopf
     
    Tristan hatte einen geheimen Platz hinter den Hühnerställen des Burghofes. Es war ein Verschlag, angebaut zwischen einem der Schuppen und der gleich daran angrenzenden Burgmauer. Von außen gesehen musste man glauben, die Bretterwand gehörte zum Stall, nichts wies darauf hin, dass darin eine Tür zu einer Kammer eingelassen war, in der jemand Diebesgut oder sich selbst hätte verstecken können. Durch einen Zufall hatte Tristan sie beim Spielen entdeckt. Er war einer schreienden Möwe mit Pfeil und Bogen nachgejagt, und einer seiner Pfeile hatte sich so fest in ein Brett dieser Holzwand gebohrt, dass er ihn kaum mehr herausziehen konnte. Dabei hatte sich die kleine Tür geöffnet.
    Die Kammer war bis auf eine Kiste leer gewesen und so niedrig, dass gerade mal eine Magd darin aufrecht stehen konnte. Die Kiste, versehen mit einem Deckel, diente ihm, seit er den Verschlag gefunden hatte, zugleich als Tisch und als Truhe. Er bewahrte darin auf, was er manchmal am Wegesrand fand oder was ihm sein Vater vom Strand hinter den Felsen, den Tristan noch nie gesehen hatte, mitbrachte.

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