Tristan
eine Messe in der Kapelle von Conoêl lesen. Ihre drei Söhne Tristan, Edwin und Ludvik waren dabei - und auch ihr Gemahl, Rual. Von einem auf den anderen Tag, so wurde in der Burg erzählt, war der Held der Schlacht von Ladonc genesen, die Wunden waren verheilt, Mut und Zuversicht in den Geist des Marschalls zurückgekehrt. Er saß in der Kirche bei den Seinen wie ein Ritter.
Es war ein Samstag, als Rual gefeiert wurde, und beim Brunnen im Burghof gab es ein Fest, zu dem alle eingeladen waren. Für die Kinder kamen Gaukler und Zauberer, und da an diesem Tag die Sonne von einem blauen Himmel schien, gab es niemanden am Hofe von Conoêl, der sich nicht vergnügte.
Tristan blieb lange bei einer Gruppe von Kindern, die sich im Schellentanz übten. Der war schwierig zu erlernen, weil man immer abwechselnd mit den Beinen und Armen, an denen die Glöckchen festgebunden waren, tanzen oder sie ruhig halten musste. Tristan verstand sehr schnell, worum es ging, und gab nach ein paar Übungen seine Schellen an Edwin weiter. So bemerkte niemand, dass er plötzlich verschwunden war.
Er hatte den Vater gesehen, wie er sich wohlfühlte, neben Floräte, dem Pfarrer und den Leuten sitzend. Manchmal noch, wenn er sich etwas aus der Schüssel nahm, verzog er vor Schmerz das Gesicht, weil nicht alle Wunden gänzlich verheilt waren. Aber er trug wieder seinen Rock und sein Wams, und niemand sah oder konnte ahnen, wie darunter die nackte Haut aussah. Die war nur Tristan und Floräte nicht verborgen geblieben, und Tristan glaubte von da an zu wissen, was es bedeutete, wenn man in den Krieg zog. Er musste auch an Darragh denken, der so schnell die Hand am Dolch hatte, selbst als nur ein kleiner Junge auf ihn zutrat.
Doch das war es nicht, was Tristan dazu brachte, sich von der Feiergemeinde zu entfernen. Er wollte das Loch finden, aus dem Linnehard bei der Mauer hervorgekrochen war. Schon zweimal war er bei der Stelle gewesen, hatte aber nichts Ungewöhnliches entdecken können. Da waren die hohe Zinnenmauer, über die er nicht hinaussehen konnte, die Sträucher, der feste, mit verfilztem Gras bewachsene Boden und der Pfad, den die Wachen auf ihrem ständigen Rundgang innerhalb der Burg ausgetreten hatten. Doch nirgends war eine Grube, eine Treppe oder eine Falltür, und in der Mauer ließ sich kein Stein verschieben, um einen Durchgang zu öffnen.
Weil seine Untersuchungen bisher keinen Erfolg gehabt hatten, wollte Tristan sich an diesem Sonntag auf seine Erinnerung verlassen. Er kauerte sich hinter denselben Busch, von dem aus er zwischen den Ästchen und Blättern das Auftauchen von Hauptmann Linnehard beobachtet hatte. So gut er konnte, maß er die Entfernungen ab, die zur Mauer und die zum Strauch, und dann ging er mit starrem Blick auf das Stück mit Gras bewachsener Erde zu, in dem der Hauptmann bis zu den Schultern gesteckt hatte. Dort grub er mit seinen Händen nach und fand nichts, keinen eisernen Ring, kein Brett, keinen Stein. Von fern hörte er die Klänge der Musikanten, die zum Fest der Genesung ihres Marschalls spielten. Über ihm zogen von der Küste her Wölkchen durch einen blauen Himmel, der sich allmählich eindunkelte. Tristan wusste, er müsse bald zurück sein, damit man nicht wieder nach ihm suchte. Verärgert hob er einen Stein auf und warf ihn gegen die Mauer.
Später, viel später, als er wie ein Blinder das Stück Mauer hätte ertasten können, das sich, ausgelöst durch einen feinen Mechanismus von Rädern und Seilen, wie das Scharnier einer Falltür bewegte - später hatte er darüber gelacht, wie sehr erstaunt er war, als sich plötzlich vor seinen Füßen der Boden absenkte.
Tristan hielt den Atem an. Er vernahm ein ratterndes, schnalzendes Geräusch, dann schnappte irgendwo ein Hebel ein, ähnlich wie es geschah, wenn die Brücke vor dem Tor heruntergelassen wurde, und dann war Stille. Vor sich sah er ein Loch, das in Dunkelheit endete. Er hatte ein Geheimnis entdeckt, einen verborgenen Zugang zur Burg. Heftig atmend stand er da, starrte in das dunkle Loch und wusste nicht, was er tun sollte. Angst überkam ihn, dass jemand anderer diese Öffnung entdecken könnte, denn er wusste ja nicht, wie sie wieder zu schließen wäre. In der Ferne hörte er Stimmen, man rief nach ihm. Schnell rannte er über die Pfade zum Burghof.
»Tristan, wo bist du gewesen?«, fragte ihn Rual, als er zu den anderen stieß, die immer noch feierten und tanzten. »Wir glaubten schon, wir müssten dich wieder suchen.« Rual
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