Tristan
niederfiel.
»Es war furchtbar«, flüsterte er, »aber wir haben gesiegt.«
»Schlaf, mein Liebster, schlaf!«, hauchte ihm Floräte ins Ohr und trocknete ihm wieder die Stirn.
Der geschundene Körper ~19~ Die Berührung
Nachdem bei Tristan das Fieber völlig abgeklungen war, verließ er anderntags noch in der Morgendämmerung die Kemenate und rannte zu seinem Versteck, um die Kugel aus der Holzkiste zu holen. Vorsichtig wickelte er sie in das Tuch.
Vor dem Zimmer, in dem er seinen Vater wusste, stand er eine Weile still und klopfte leise. Niemand antwortete. Er drückte die Tür auf, hörte ein Ächzen und das Plätschern von Wasser. Tristan hielt den Atem an und betrat, sich an den Wänden und Vorhängen entlangtastend, den noch ganz dunklen Raum. Dann sah er in einer Nische seinen Vater und erschrak. Eine Kerze war aufgestellt und eine Öllampe. Sie beleuchteten die Ecke, in der Rual sich wusch. Er schüttete das Wasser aus kleinen Holzeimern über sich, stöhnte dabei und jammerte, das Schattenbild zeigte verzerrt seinen Körper.
Tristan trat so nahe an seinen Vater heran, dass sich Rual plötzlich umwandte und ihn ansprach: »Tristan«, sagte er voller Verwunderung, »was machst du hier und zu dieser frühen Stunde? Warum kommst du, wenn ich mich wasche? Floräte hat mir gesagt, du seist krank, und von Darragh hat sie mir erzählt und dass du einen halben Tag lang nicht aufzufinden gewesen warst. Du hast ihr Sorgen bereitet. Darüber werden wir noch reden müssen, wenn es mir wieder besser geht. Doch jetzt sag schon: Was willst du von mir?«
Tristan brachte kein Wort heraus. Er stand nur da, hielt Rual die von dem Tuch abgedeckte goldene Kugel entgegen und starrte seinen Vater an. Nie zuvor hatte er ihn nackt gesehen. Rual hatte einen gedrungenen, massigen Körper, die Brust war ein wenig behaart, die bleiche Haut am ganzen Körper und an den Gliedmaßen war übersät von Schnitten und blau und grünlich verfärbten Flecken, manche größer als eine Faust. Die Wunden am Hals und an den Lenden waren teils voller Schorf und Grind, teils waren sie noch offen, und in kleinen Rinnsalen sickerte dünnes Blut und Wundsaft daraus hervor. Tristan starrte auch auf das Geschlecht seines Vaters, das müde, verschrumpelt und von aschgrauer, fast violetter Farbe war, umgeben vom weißlichen Gelb gekräuselter Haare. Am meisten aber zog eine Wunde am rechten Oberschenkel Tristans Blicke auf sich. Dort hatte eine feindliche Lanze das Muskelgewebe aufgeschlitzt.
Tanjana, die Schneiderin, hatte den klaffenden Spalt genäht, als Rual noch in Ohnmacht lag. Floräte hatte den Schrund immer wieder mit einer bitteren Kräuterpaste bestrichen, aber das »Tier«, wie sie die tiefe Verletzung nannte, wollte nicht heilen. Kurz bevor Tristan gekommen war, hatte Rual versucht, den Eiter herauszuspülen, Becher um Becher kalten Wassers hatte er darüber geschüttet und die Zähne zusammengebissen, um nicht vor Schmerzen zu schreien. Auch jetzt, da der Kleine seines Vaters geschundene Nacktheit mit starren Blicken wahrnahm und schließlich mit aufgerissenen Augen an dem »Tier« haften geblieben war, suchte Ruals rechte Hand wie von selbst diese am meisten gepeinigte Stelle seines Körpers auf, er bückte sich dabei und stöhnte leise.
Da nahm Tristan, ohne zu wissen, was er tat, das Tuch von der Kugel. Sogleich fing sie das Licht der flackernden Kerze und der Öllampe auf und schickte es zurück in einem einzigen Strahl, der genau auf Ruals Wunde an dessen Oberschenkel traf. Tristan trat noch einen Schritt vor und hätte nun die Wunde berühren können, aber versunken in das Licht der Kugel näherte er nur seine Hand, in der die Kugel sich um sich selbst zu drehen begann. Von der Kraft der Kugel wurde die Hand zur Wunde gezogen, und als sich Widerschein und Glanz, Eiter und Fäulnis zu berühren schienen, zwang dieselbe Kraft Tristan, die Kugel wieder in das Tuch einzuschlagen.
Rual, der alles beobachtet hatte, atmete erleichtert auf, und es traten ihm Tränen in die Augen. Er beugte sich zu Tristan hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
»Ich wollte dir nur die Kugel wiederbringen«, sagte Tristan leise, legte sie dem Vater in die großen Hände, wandte sich verschämt ab und rannte aus dem Zimmer.
Das Fest ~20~ Der Steinwurf
Floräte glaubte an ein Wunder. Am sechsten Tag nach Ruals Verwundung ließ sie zu Ehren der Heiligen Agnes von Helegän, die mildwirkend für alle Kranken und Siechen gewesen war,
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