Tristan
die engen Gassen zum Dom ritten, da war es ganz selbstverständlich, dass Tristan, als sie die Pferde in einem Stall abgaben, sein Kästchen mit dem Glas vom Packpferd losband und sich unter den Arm klemmte, obwohl Thomas auf ihr Gut achtgab und bei den Rössern blieb. Selbstverständlich schien auch, dass Nella sie bei ihrem Gang in den Dom begleitete. An einem der Seitenschiffe wurde gebaut, Steine wurden behauen und eingepasst, Staub schwebte durch das Licht, das in die Kathedrale einfiel.
Courvenal war sprachlos, als er das heilige Gebäude betrat. Etwas derart Riesiges, Weites, Schweres und zugleich Leichtes hatte er nie zuvor erblickt. Tristan war an seiner Seite und hatte die Hand in die seines Lehrers geschmiegt. Andächtig gingen sie in den mächtigen Raum hinein bis vor die Kanzel. Dort standen einige Hocker mit notdürftig aus Binsen geflochtenen Sitzen, und alles wirkte so klein und unbedeutend, auch sie beide: Courvenal und Tristan. Nella hatte sich von der Seite Tristans gelöst und war in die Apsis gelaufen, bellte, und ihre Stimme hallte wider, als würden hundert Hunde bellen. Tristan hielt in der freien Hand sein Kästchen an einem Lederriemen fest, hob diesen Arm zusammen mit dem Kästchen und zeigte auf eines der Fenster, vor dem ein Handwerker in einem Ledergurt saß, gehalten von einem Seil, das von der Decke herabgelassen worden war. Courvenal überkam ein Schwindel, als er sah, wie hoch der Mann über dem Boden leicht hin- und herpendelte, bis er sich schließlich festhielt und in Ruhe arbeitete. Von der Decke des Doms herab schallten die Stimmen anderer Besucher, die das Gotteshaus betreten hatten. Auch durch dieses Echo spürte der Mönch nochmals den ummauerten Raum in all seinen unfassbaren Dimensionen. Ein Schauder überlief ihn, er umfasste die Hand Tristans und drückte sie, als müsste er sich an dem Kind festhalten. »Wo ist Nella?«, fragte er mit verhaltener Stimme.
Die Hündin kam sofort, als Tristan sie rief, wedelte mit dem Schwanz, schien glücklich und völlig unbeeindruckt von dem, was sie umgab.
Üben ~ 124 ~ Schmieden
Nella und Tristan waren nicht mehr zu trennen. Courvenal notierte in sein Heft, dass sich ihr Aufenthalt in Speyer in der Residenz des Bischofs auf mehr als sieben Wochen ausgedehnt hatte. Das lag vor allem daran, dass Tristan dort seinen zehnten Geburtstag feiern wollte und, was wohl viel wichtiger war, Nella mit in seine Kammer nehmen durfte. Courvenal war das ganz recht. Auch er hatte eine eigene Zelle, in der wie in allen anderen ein Bett, ein Schemel, ein Stuhl und ein Tisch standen. Auf dem Fensterbrett hatte er seine Hefte und Bücher ausgelegt und schrieb oder las oft noch bis in die späte Nacht beim Licht eines Öllämpchens. Das Beste aber bestand darin, dass des Morgens, wenn sie erst beim Gebet, dann beim Frühmahl waren und danach in der Krypta des Doms bei der heiligen Messe - dass währenddessen wie von unsichtbarer Hand das Lager gerichtet, die Decke aufgeschüttelt, der Pruntopf entleert und das Öllämpchen aufgefüllt wurden. Sogar die Kleider wurden gewaschen, die Courvenal einmal achtlos auf seinem Lager liegen ließ, und wie es der Zufall wollte, geschah dies auch mit der Soutane und den Beinhosen von Tristan. Beide, Lehrer und Schüler, waren überaus glücklich, anderntags nach dem Gebet ihre Kleider auf ihren Lagern sauber und zusammengelegt wiederzufinden.
Nach der Maxime Courvenals, dass bei einem Jungen in Tristans Alter erst der Geist sich ausbilden sollte, bevor die körperliche Ertüchtigung nachfolgte, hatte er den Jungen in zwei Lehrstellen untergebracht, in denen er jeweils am Vor- und Nachmittag ganz verschiedene Tätigkeiten lernte. Am Morgen las er mit den Mönchen die Bibel und die Werke der Griechen, wie sie in Abschriften vorlagen, am Nachmittag musste er einem Schmied in seiner Werkstatt helfen.
Dieser Schmied hieß Alfred, hatte seine Esse in der Judengasse, und beide liebten sich von dem Moment an, in dem sie sich begegnet waren. Alfred, der einen ihm bis auf die Brust fallenden Bart trug, hatte die Angewohnheit, bei der Arbeit zu singen. Da er sowohl Messer, Schwerter, aber auch Zirkel und Nadeln herstellte, mit großen und kleinen Hämmern arbeitete, unterschieden sich je nach dem Werkzeug, das er fertigte, seine Lieder. Sie waren voll, laut und rhythmisch bei Streitaxt oder Schwertklinge, fein und melodiös bei den Scheren und Winkeleisen. Die Lieder Alfreds lernte Tristan schnell, er stand neben dem
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