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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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nicht annehmen.
    »Edler Meister«, sagte er, »Ihr meint es gut mit dem Sohn meines Marschalls. Bedenkt aber, dass wir uns auf einer Reise befinden, die uns durch die teutschen Lande, über die Alpenberge, nach Italia, mit dem Boot von Sizilien aus bis nach Toulouse, nach Barcelona gar, durch Iberia, Portugal, Navarra und Guyenne zurück bis nach Parmenien an der bretonisch-normannischen Küste führen soll. Wir werden Flüsse durchqueren, Berge übersteigen, Geröll unter unseren Füßen haben, vor Wegelagerern fliehen müssen …«
    »Feuerspeiende Drachen besiegen und Greifvögel töten!«, unterbrach ihn Tristan.
    »Auch das«, sagte Courvenal lächelnd, »auch das. - Wie soll da ein solch zartes Gefäß, nicht fester als gefrorene Luft, zart wie der Flügel eines Falters, leicht wie die Feder eines Singvogels - wie soll es all die vielen Jahre solcher Strapazen und Exerzitien, die wir noch vor uns haben, überstehen? In Euren Händen ist dieses Quarzglas sicher besser aufgehoben und noch besser in dem Eichenholzschrank eines Bischofs.«
    Der Meister hörte sich Courvenals Rede an und staunte über all die Namen und Stationen, die der Mönch dabei nannte. Er schien sich auch ein wenig auszukennen in der Welt, sagte immer wieder einmal bei der Erwähnung von Orten wie Verona, Rom oder Montecassino »Oh!« und »Ah!« und »Ach, wie schön!«. Doch dann griff er sich in seinen kurzen Bart und sah Courvenal mit einem sorgenvollen Blick an. »Was zweifelt Ihr daran, ein Glas durch ganz Europa unversehrt tragen zu können, wenn Ihr noch etwas viel Zerbrechlicheres in den Händen Eurer Verantwortung tragt, nämlich ein Kind, aus dem am Ende Eurer Wallfahrt ein junger Mann geworden sein wird. Ihr tut nichts anderes als ich, wenn ich Mineralien erhitze und schmelze, sie dann forme, indem ich ihnen meinen Odem einblase, sie mit Indium oder Kobaltpulver verziere, sie erkalten lasse und schließlich als feste Form dem übergebe, der dort hinein wieder etwas Flüssiges gießt, sei es Wasser, sei es Wein, sei’s zum Trinken, sei’s zum Genuss. - Doch solche Gefäße, von unserem Atem belebt, unseren Händen geformt, von unserem Geist beseelt, brauchen Schutz - da habt Ihr recht. Deshalb schickt Ihr oder Euer Marschall aus Parmenien, wo immer das auch liegen mag, diesen Fürstensohn, denn er muss ja etwas sehr Kostbares sein, nicht allein auf seinen Weg ins Leben. Ebenso wenig werde ich das tun mit dem Becher, den ich ihm schenken möchte. Für den Transport in die Ungewissheit sind daher feste Behälter vorbereitet.«
    Der Meister nahm ein hölzernes Kästchen von einem Wandbrett, öffnete den Deckel und versenkte das Glas zwischen Wollstücken, Federn und Lederresten. Dann verschloss er das Kästchen und sagte: »Das ganze Geheimnis ist, dass dieses zerbrechliche Gefäß ebenso wie Euer Zögling genau in den Mantel passt, mit dem man ihn schützend vor allen Anfeindungen umgibt. Nimm niemals«, und nun wandte sich der Meister an Tristan und beugte sich ein wenig zu ihm hinunter, »während deiner Reise das Glas unbesonnen aus seinem Behältnis. Erst wenn ihr glücklich und unversehrt euer Ziel, also den Ausgang eurer Reise erreicht habt, wenn ihr am Ende wieder am Anfang angekommen sein werdet und dich viel Zeit und Erfahrungen anderer Menschen durchströmt haben, dann öffne den Deckel, den ich jetzt mit Wachs verschließen lasse. Dann trinke aus dem Becher, was dir am meisten behagt - und nun zieht weiter mit Gott und allen meinen guten Wünschen!«
    Als sie von Colonia fortritten, verzurrte Tristan eigenhändig das Kästchen an der Sattelschlaufe seines Pferdes. Später, als Thomas dazukam, gab er es zum Packgut des vierten Pferdes. Bei jeder Übernachtung, die sie im Freien hatten, in einer klösterlichen oder weltlichen Unterkunft, befand sich das für ihn unsichtbare Glas in unmittelbarer Nähe am Kopfende seines Lagers.
    Was der Glasbläsermeister gesagt hatte, ging Courvenal lange nicht aus dem Sinn. Diesen Worten nach war er selbst das Gehäuse, das sich schützend um den Jungen legen musste, damit ihm kein Schaden zustieß. Von Wolle, Leder, von Federn hatte der Meister gesprochen, eng und dicht mussten die Stoffe, das Weiche und Wärmende das Verletzliche umgeben, damit nicht nur es selbst geschützt werden konnte vor Stößen, sondern auch die Verzierungen, seine Schönheit und Einmaligkeit.
    Wie sie am nächsten Morgen Speyer erreichten und von Westen her durch das Tor und, begleitet vom Marktgeschrei, durch

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