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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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Bei den Frauen handelte es sich um unverheiratete Töchter oder Cousinen der Grafen, hübsches Federvieh, das sich herausgeputzt hatte, um ihn zu beeindrucken. Marke war schließlich ein König und genoss hohes Ansehen in Britannien. Bei seinem Heer, so klein es auch war, achtete er auf die Tugenden und das Können der Ritterschaft und gab dafür viele Goldmünzen aus. Sein ganzer Ehrgeiz ging darin auf, in seiner Grafschaft der Bedeutendste zu sein und zugleich seinem König Heinrich zu dienen. Der Gedanke aber, seine Schlafstatt mit einer Frau für immer zu teilen, war für ihn kaum vorstellbar. Seine Schwester hatte für ihn alles bedeutet. Sie war schön und klug gewesen, stets in seiner Nähe, hatte nie etwas von ihm verlangt - bis sie plötzlich verschwunden war.
    Dass Riwalin, der Parmenier, dabei seine Hand im Spiel gehabt hatte, vermutete er von Anfang an. Denn neben Blancheflur waren auch zwei Zofen unauffindbar geworden. Er hatte Läufer ausgeschickt, Boten nach Parmenien gesandt, doch nie war einer von ihnen übers Meer an seinen Hof zurückgekehrt. Barden, die vom Festland her kamen, erzählten wunderliche Geschichten, Riwalin habe sich in sein Schwert gestürzt, weil er Blancheflur in England habe zurücklassen müssen. Andere wollten gehört haben, Markes Schwester sei dem Ritter auf einem Schiff gefolgt, das von einer Riesenkrake verschlungen und auf den Meeresgrund gezogen worden sei.
    Marke glaubte keiner dieser fabulae und misstraute den Sängern, die ihn mit schauriger Mär von der Wahrheit ablenken wollten. Auch über die vielen Jahre, die seitdem vergangen waren, konnte er nicht von der Erinnerung an Blancheflur und seiner traurigen Sehnsucht lassen. Manchmal ließ er einen der Gelehrten holen, der den Kalender führte, um nachzufragen, wie viel Zeit denn seitdem vergangen sei. Dann bekam er die Auskunft: »Drei Jahre, mein König«, oder »sieben fast genau auf den heutigen Tag!« Jedes Mal wenn er den Chronisten nach seiner Schwester Verschwinden fragte, spürte er zugleich dessen Unwillen gegen seine Neugier. Er bedeckte seine Augen mit der Hand, rieb sich die Stirn, als wäre er müde, und spürte, wie ihm die Tränen kamen. Er sah Blancheflur vor sich, wie sie sich ihm näherte, wie er sie umarmte und an sich drückte. Und als er nach einem erneut spurlos vergangenen Jahr kurz vor einem Jagdausritt im beginnenden Herbst, bei dem er einen halben Monat unterwegs sein würde, wieder einmal nachfragte, wie lange seine Schwester nun schon fort sei, hieß es, im kommenden Sommer seien es fast zwölf Jahre.
    »Und wie alt bin ich dann selbst?«, fragte er den Gelehrten.
    »Euer Leben wird sechsunddreißig Jahre zählen, mein König.«
    »Woher wisst Ihr das so genau?«
    »Die Chroniken sagen es.«
    Sechsunddreißig Jahre, dachte Marke, konnte der Zahl keine Bedeutung beimessen und schickte den Mann weg. Was kümmerte ihn seine eigene Zeit. Er fühlte sich noch jung und kräftig, es störte ihn kaum, in diesem Alter noch immer keine Frau und auch keine Nachkommen zu haben. Fürsten aus anderen Grafschaften waren zwar längst verehelicht, die Fürstinnen brachten aber oft nur Mädchen zur Welt. Das bleibt mir erspart, sagte er zu sich wie zur Rechtfertigung. Wie davon angezogen kehrten in der nächtlichen Dunkelheit seiner Kammer die Gedanken zu Blancheflur zurück. Wäre sie noch am Leben, fantasierte er, hätte sie … Er wollte diese Gedanken nicht, warf sich auf seinem Lager von der einen auf die andere Seite. Bilder traten in seine Erinnerung, wie er seine Schwester einmal in eine Nische gedrängt hatte, in der Kissen lagen. Er hatte zu viel Wein getrunken, und es gab doch keine schönere, liebenswertere Frau in seinem Leben als Blancheflur. Kaum fühlte er das, kamen ihm erst Tränen der Wehmut, dann solche der Schuld, bei denen er sich verkrampfte, danach Tränen der Wut über sich selbst. Schluchzend, mit aufeinandergepressten Zähnen, stieg in ihm Rachsucht hoch gegenüber diesem Parmenier Riwalin, der plötzlich wie aus dem Nebel über dem Meer aufgetaucht war. Blancheflur und auch er selbst hatten ihn bewundert, diesen strahlend jungen Mann voller Kraft und Anmut. Freundschaft hatte er gegenüber dem kleinen Herzogtum gefühlt, das unter Englands Obhut lag. Es ging alles gut dort, man musste sich nicht darum kümmern.
    Dann riefen Riwalin Fehden in seine Heimat zurück. Marke war zum einen nicht unglücklich gewesen, sich von dem heldenhaft jungen König trennen zu müssen, weil dadurch

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