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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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nicht fertig, den Zettel zu vernichten. Als Tristan irgendwann den Brief Florätes zu sehen verlangte, hielt der Mönch ihm das Schreiben erst weit entfernt von den Augen hin und sagte: »Kannst du es lesen?«
    Tristan konnte seine schweren Lider kaum offen halten und verlangte mit glasigem Blick, dass ihm Courvenal das Schreiben näher ans Gesicht führte. Der Mönch erschrak. Er wusste ja nicht genau, in welchem Geisteszustand sich der Junge befand, ob er lesen konnte, was er auf die Seite gekritzelt hatte.
    »Das hat sie wieder nicht selbst geschrieben?«, fragte der Junge mit schleppender Stimme.
    »Aber nein«, sagte Courvenal erleichtert. »Sie hat es diktiert.«
    »Und hat sie ein Zeichen gemacht? Eine Signatur?«
    »Ja doch! Hier unten, siehst du? Die Sonne mit den Strahlen - die hat deine Mutter gezeichnet.« Für einen kurzen Moment hatte Courvenal das Blatt nochmals vor Tristans Augen geführt, zog es dann schnell zurück und faltete es zusammen.
    Tristan glaubte, die Sonne gesehen zu haben. Sie blieb wie ein glühender Stern in seinem Inneren zurück. Er war zufrieden und schloss die Augen. Courvenal wischte ihm die schweißnasse Stirn mit einem in Essigwasser getränkten Tuch ab. Dann kniete er neben dem Bett seines Zöglings nieder und begann zu beten.
     
    Die Jugend von Jesus Christus ~ 137 ~ Notatezu einem Heranwachsenden
     
    Der Gedanke daran, wie Jesus Christus, der Sohn Gottes, den sie alle anbeteten und der ihnen die Erlösung von allen Leiden und der Schuld der Menschheit verheißen hatte - wie Jesus seine Kindheit und Jugend verbracht haben mochte, dieser Gedanke ließ Courvenal nicht mehr los. Als sie die Bergpässe überquerten, die Pferde an der Zügelleine hinter sich herzogen und ihnen kein Mensch mehr begegnete, war ihm dieser Gedanke wie eine Eingebung gekommen. Die Heilige Schrift gab darüber keine Auskunft. Er aber, Courvenal, begleitete gerade einen jungen Menschen in seine adulescentia und sah sich jeden Tag erstaunlichen Fragen gegenüber, die Tristan ihm stellte. Er wollte alles wissen über Himmel und Erde, über Pflanzen und Tiere. Jesus, hatte Courvenal dabei gedacht, musste keine dieser Fragen stellen. Er war ja selbst Himmel und Erde, die Gott, sein Vater, geschaffen hatte. Er wusste alle Pflanzennamen und kannte das Wesen einer jeden Kreatur. Als Herr über Leben und Tod hatte er weder Fieber noch Krankheit zu fürchten. Doch war er auch ein Mensch. Also musste er, wie Courvenal in mancher Nacht, sein Geschlecht spüren, das den Drang hatte, sich fortzupflanzen. Wovon träumte Gottes Sohn? Jesus musste auch, wie es bei Tristan zu sehen war, Verunreinigungen der Haut im Gesicht gehabt haben, an denen er sich, wie Tristan es tat, kratzte und die sich entzündeten. Courvenal kaufte deswegen Salben und verrieb sie auf den Wangen und am Kinn von Tristan. Das Gleiche muss auch jemand bei Jesus gemacht haben, dachte er dabei - aber in der Heiligen Schrift stand darüber nichts geschrieben.
    Daher entschloss sich Courvenal an einem Nachmittag im Kloster Einsiedeln, in dem sie vor dem Übergang über die Bündner Pässe haltgemacht hatten, ein besonderes Heft anzulegen, in dem er versuchen wollte, seine Beobachtungen über Tristans Entwicklung festzuhalten. Er nannte es »Notate zu einem Heranwachsenden«.
    Tristan wäscht sich nicht gern - dies war sein erster Eintrag. Er gibt freche Antworten, wenn ich ihn auf ein notwendiges Tun hinweise. Aufforderungen ignoriert er, als hätte er sie nicht gehört. Ich deute auf etwas, und er blickt in die entgegengesetzte Richtung. Gibt es an Berghängen zwei Pfade nebeneinander, wählt er stets den höher gelegenen und schaut auf mich und Thomas hinunter. Das scheint ihm Freude zu bereiten, auch wenn er sie nicht teilen kann. Nella läuft immer hinter ihm her, doch er beginnt, die Hündin zurechtzuweisen. Gestern zog er ihr mitseiner Reitgerte eins über, als sie entgegen seiner Erlaubnis an ihm hochsprang. Mir fällt er oft ins Wort. Andererseits sitzt er während einer Rast blass in einer Ecke in einer Herberge oder zusammengekauert am Fuße eines Baumes und will nicht angesprochen werden. Thomas beachtet er manchmal einen ganzen Tag lang nicht. Am nächsten Morgen ist er ständig in seiner Nähe und lacht albern über jedes Wort, das sie wechseln. - Seine Stimme bricht und überschlägt sich. Wenn wir die Zelte aufgeschlagen haben, entfernter sich und ist für eine Zeit nicht auffindbar. Nachts, beim Feuer, lauscht er den Legenden, die ich

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