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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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seiner Schwester Blicke wieder nur ihm gehören würden. Doch wenige Tage nach der Abreise des Parmeniers wurden Blancheflur und zwei ihrer Zofen vermisst. Das konnte kein Zufall sein! »Das war alles kein Zufall«, murmelte Marke in sein Kissen hinein, biss wieder die Zähne zusammen und schloss die Augen so fest, bis sie sich mit Wasser füllten. So schlief er oft ein, mit krampfhaften Vorstellungen, die nach einer Weile von gleichmäßigen Atemzügen abgelöst wurden. Am nächsten Tag weckte ihn das Jagdhorn, wie immer so schlecht geblasen, dass er darüber im Ärger erwachte, doch seine Fantasien waren von ihm gewichen.
     
    Bobbio ~86~ Fieberbrief
     
    »Wir sind nun schon bald fünf Jahre auf der Reise«, sagte Courvenal zu Tristan an irgendeinem dieser vielen Tage, die sie gemeinsam mit Thomas und Nella unterwegs waren, »das müsste eigentlich gefeiert werden. Es nähert sich auch wieder dein Geburtstag, verstehst du das?«
    Das kümmere ihn nicht, antwortete Tristan darauf achselzuckend. Er gab seinem Pferd einen Tritt in die Flanken und ritt voraus. Courvenal hob nur die Augenbrauen und sah es ihm nach, dass er sich so ungestüm verhielt.
    Sie ritten auf der Straße nach dem Claustrum Bobbio. Courvenal hatte von Mailand aus einen Boten vorausgeschickt, um sie anzukündigen. Vor langer Zeit war er schon einmal in dieser Gegend gewesen und hoffte, dass der Abt des Klosters, Frau Bartholomaus, noch immer der Brudergemeinschaft vorstand. In einem Brief bat er den Abt darum, ihm und seinem Schüler ein möglichst ruhiges Zimmer über die Wintermonate bereitzuhalten. Er erwähnte auch, dass er für die Kosten aufkommen werde. Außerdem versprach er, dass das Kloster durch die ungewöhnliche Geschicklichkeit seines Eleven im Umgang mit den Sprachen einen hohen Nutzen haben werde.
    Courvenal hatte dieses Bittschreiben nach allen Regeln der Kunst formuliert und auch nicht auf schmeichelnde Worte verzichtet. Er erhoffte sich von einem langen Aufenthalt in Bobbio vor allem Ruhe für Tristan und sich selbst. Ihm lag am Herzen, dem Jungen einen Ausgleich zu schaffen für die Strapazen, die sie hinter sich hatten: der lange Ritt an den Flüssen und Seen entlang und über die Berge, deren Gipfel sie noch im abnehmenden Sonnenlicht des Herbstes rot leuchten sahen. Oft hatte es tagelang keine Unterkunft gegeben. Sie erlebten eisige Nächte im blendenden Licht des Vollmonds, bis sich der Himmel mit Wolken zugezogen und erst Regen, dann wässrigen Schnee gebracht hatte. Für Thomas mussten sie winterliche Kleidung beschaffen und auf einer Hütte ausharren, weil ihn das Fieber angegriffen hatte. Courvenal bereitete ihm Tee aus Kräutern, die die Hitze in ihm senkten.
    Sobald es möglich war, machten sie sich wieder auf den Weg. Thomas hustete noch immer, als sie Mailand erreichten. Dort war es Tristan, der schwächelte. Wahrscheinlich hatte der Knecht das Fieber auf ihn übertragen. In einer Missionsstation fanden sie Unterkunft, und der Junge musste viele Tage auf seiner Bettstatt liegen bleiben.
    Courvenal saß bei ihm, las ihm vor, und wenn Tristan mit glühender Stirn mitten in der Nacht erwachte und fragte, ob seine Mutter ihm wieder geschrieben habe, beruhigte ihn der Mönch, indem er ihn anlog: Ja, sie habe geschrieben, es gehe alles gut auf Conoêl. Die späten Herbststürme würden nun von Britannien herüberziehen, aber Vieh und Korn seien unter Dach und Fach und Rual habe einen Streit geschlichtet, ohne dass er zu den Waffen hätte greifen müssen. Täglich würde Floräte für Tristan in der Kapelle beten und immer in ihren Gedanken bei ihm sein. Courvenal hielt, als er diesen Brief vorlas, ein Papyrusblatt in den Händen, das er aus einem Heft herausgetrennt hatte, darauf standen Sätze wie: Er fasst sich jetzt immer öfter ans Geschlecht, wenn ihn niemand beobachtet, oder: Was wissen wir darüber, wie unser Herr, Jesus Christus, seine Jugend verlebte? Ein Gott wird geboren und ist schon ein Mann. Was ist dazwischen? Hat er sich am Geschlecht gerieben? Courvenal trug diesen Zettel, wie er ihn nannte, dieses sorgfältig zusammengefaltete Blatt, immer bei sich, wie ein Geheimpapier. Er wusste, wie unkeusch die Worte wirkten, die er darauf geschrieben hatte, doch es waren nun mal seine Gedanken. Wenn er am Abend das Blatt aus seinem Rock zog und dem im Fieber liegenden Jungen einen gar nicht vorhandenen Brief vorlas, wurde ihm bewusst, wie abscheulich und ketzerisch Gedanken sein konnten. Gleichwohl brachte er es

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