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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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Notatenbuch vom Tisch. Helles, blendendes Licht fiel durch eines der Fenster. Die Mägde waren wieder da, schienen noch immer wie von fremder Hand geführt, nur dass Tristan jetzt das Geräusch ihrer über den Boden schleifenden Rocksäume vernahm und mit Verwunderung die nackte Haut ihrer Schultern bemerkte. Von irgendwoher kam Flötenmusik, begleitet von einer Laute mit tiefen und fordernden Tönen in schnellem Rhythmus. Courvenal riss ein Stück von einem Fladenbrot ab, tunkte es in eine Schale mit Ziegenmilch und stopfte es sich in den Mund. »Es ist süß«, sagte er mit einem Seitenblick auf Tristan, der sich die Augen rieb. »Du musst es versuchen. Du hast den ganzen Tag für dich. Mach, was du möchtest. Vielleicht findest du heraus, wo unser Freund Thomas und deine Nella untergekrochen sind. Ich werde nach Toledo reiten und nach einigen Leuten sehen, die uns helfen können. - Iss das Brot. Es ist wunderbar frisch. Im Teig sind getrocknete Trauben, und dazwischen ist ein Hauch bitterer Oliven, herrlich! Viel besser als gesalzener Fisch!« Courvenal lachte, schmatzte und schleckte sich die Finger. Er trank seine Schale aus und verabschiedete sich von Tristan, indem er ihm im Weggehen auf die Schulter klopfte.
    »Gesalzener Fisch«, hatte Courvenal gesagt. Mit einem Mal wusste Tristan, was ihn so ermüdet hatte. Es war das Wiedererkennen. Die Burg, der Marktplatz, die Gassen, die Hütten, diese Kemenate - alles gemahnte ihn, so anders es auch war, an Conoêl. Das bloße Empfinden der Vergangenheit war es, das er schwer wie eine Last verspürte. Es lähmte ihn. Dabei war er doch nun in einer anderen, neuen Welt! Das Licht in den Fenstern war heller, die Luft wärmer, die Gerüche waren süßer, die Tage länger. Doch der Raum, der Tisch, Stühle, all die Umschlossenheit, Mauern, Gräben, eisenbeschlagenen Tore - das Ganze war wie damals während seiner Kindheit. Zum ersten Mal empfand er keine Sehnsucht mehr nach Floräte, Rual und seinen Brüdern. Auch in seinem Innern hatte er sich von ihnen entfernt. Er musste hinaus!
    Schnell holte er aus seinem Kleidersack etwas zum Anziehen, streifte es sich über, nahm ein Stück Brot und lief aus dem Gemach und aus dem Gebäude. Kaum war er draußen auf dem Hof in der Sonne, fand er seine Behändigkeit wieder, überließ sich dem Weg, den er einschlug, folgte beinahe fliehend der Gasse in der geschützten Umgebung und gelangte auf den Platz vor der Burgkapelle. Kein Läuten hatte ihn gelockt, niemand war zu sehen, ein paar Ziegen knabberten den Bast von dürren Sträuchern, und in den Hecken tschilpten Spatzen. Die Kapelle war hoch aufgezogen, der Turm aber ohne Spitze nur mit einem Rundlauf unregelmäßiger Zinnen versehen, als gehöre er zur Befestigungsanlage.
    Da er trotz der noch niedrig stehenden Morgensonne schon zu schwitzen begann, erhoffte sich Tristan Abkühlung hinter den dicken Mauern der Kirche. Die Eingangstür stand einen Spaltbreit offen, sodass er gerade eben hindurchschlüpfen konnte. Als er versuchte, sie hinter sich zuzuziehen, merkte er, dass sie fest auf dem Boden aufsaß und sich nicht weiter öffnen oder schließen ließ. Sie musste sich gesenkt oder der Boden sich gehoben haben. Eine Kirchentür, die nicht wie ausgebreitete Flügel die beladenen Seelen der Gläubigen empfing, kam ihm seltsam vor. Noch merkwürdiger erschien ihm das Innere des Gotteshauses. Der große hohe Raum war vollkommen leer. Er fand dort nur einige an die Wände des Chors gerückte Bänke vor, doch es gab weder einen Opferstein noch ein Taufbecken, keine Kerzenständer und kein Kreuz. Nicht einmal ein Priester oder Messdiener waren zugegen. Am meisten aber befremdete ihn, dass nirgendwo ein Bild oder eine Marienfigur zu sehen war. Bis zur halben Höhe waren die Wände mit merkwürdigen Mustern und Ornamenten geschmückt, die unter den schmalen Fensteröffnungen endeten, welche zu den Dachbalken hin mit einem Rundbogen abschlossen.
    Gott ist in diesem Haus nicht erwünscht und auch nicht seine unbefleckte Mutter, schoss es ihm durch den Kopf. Trotzdem kniete er nieder und beugte sich gen Osten vornüber, so tief er nur konnte, bat um Gnade, Erleuchtung und Vergebung seiner Sünden, wie er es gelernt hatte. Er sagte seine Gebete halblaut vor sich hin, als er in seinem Rücken von Weitem Stimmen hörte, die anfingen, heftig miteinander zu streiten. Sie stießen Zurufe und Schreie aus, wie er es nur von der Anfeuerung bei Wettkämpfen in Schlosshöfen her kannte. Erschrocken

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