Tristan
Und doch - saßen sie nicht alle zusammen in einem einzigen Kreis? Und das mitten in einem Gotteshaus. Warum war kein Priester gekommen, um sie zu vertreiben? Hatte er nicht oft genug von dem Beispiel gehört, das Jesus den Wucherern gegeben hatte, den Händlern und Marketendern, die den heiligen Tempel durch ihre Geschäfte entweiht hatten? Schreiend muss er durch die Halle gelaufen sein, in die Hände hat er geklatscht, »Macht, dass ihr rauskommt!«, hat er gerufen, »Haut ab!«. Sicher hatte Jesus Verstärkung, einen Trupp Gleichgesinnter, bewaffnet vielleicht. Das muss es gewesen sein, dachte Tristan und ging weiter die Gasse entlang, ohne zu wissen, wohin sie ihn führte. Als Jesus also den Tempel betrat, war er entsetzt gewesen. Da verkauften die Händler Hühner - oder veranstalteten sie Hahnenkämpfe, nahmen Geld ein für die Vorstellung, wie er soeben eine erlebt hatte? Was würde er denn tun, überlegte Tristan, um so eine Menge von Leuten wegzujagen? - Mit dem Schwert auf sie losstürmen. - Wo war sein Schwert?
An diesem Morgen hatte er, ohne es zu wollen, wieder seine Kutte angezogen. Das merkte er erst jetzt. Sie ist mir wie an den Leib gewachsen, dachte er. Aber nun weiß ich auch, warum ich so schwitze. Er wurde sich aber auch gleich des Vorteils bewusst: In der fremden Umgebung unter all den dunkelhäutigen Menschen konnte er sein blondes Haar unter der Kapuze verbergen. Courvenal hatte solche Probleme nicht. Seit Langem ging er in seiner zweiten Haut herum, wie er sagte. Tristan dagegen wechselte oft ganz bewusst zwischen dem Bild von sich als Sohn eines Marschalls und als Novize. Das Verkleiden und Nicht-er-selbst-Sein machte ihm Spaß. Courvenal ließ ihn gewähren, schien gar nicht darauf zu achten. Warum? Weil er ihn stets Tristan nannte und er für ihn nie ein anderer war?
An diesem Morgen nun war ihm die Verkleidung einfach geschehen. Er ging vorwärts, die Kapuze bis in die Stirn gezogen, den Blick auf den Boden gerichtet, nahm nichts um sich herum wahr. Dann fühlte er Pflastersteine unter seinen Füßen, unregelmäßig ausgelegt, die schon glühend heiß sein mussten. Um dies spaßeshalber nachzuprüfen, zog er sich die Riemenschuhe von den Füßen und schritt voran, biss die Zähne zusammen gegen den Schmerz, weil ihm die Fußsohlen zu brennen schienen. Ich werde Thomas suchen, dachte er, sah, eine Treppe hinuntergehend, einen Teil des Marktplatzes vor sich, hielt die Sandaletten in der linken Hand und spürte, wie ihm schwindlig wurde. Die Beine sackten ihm weg.
Als er wieder zu sich kam, blickte er in das Gesicht einer Frau, die ihm mit einem Fächer aus Federn vor dem Gesicht herumwedelte. Sie hatte seinen Kopf angehoben, beugte sich weit über ihn, und Tristan starrte ihr erst in die Augen, dann auf den Mund, der sich unablässig bewegte, und schließlich glitt sein Blick über ihr weiches Kinn und ihren Hals hinunter zu ihren Brüsten, die sich wie zwei gleichmäßig geformte weiche Halbkugeln aus dem mit Spitze besetzten Ausschnitt ihres Kleides herausdrückten. Ein Schwall fremder Laute drang an sein Ohr, ein milder, nach Blüten duftender Geruch kam ihm in die Nase, und unter der prall gespannten Haut des Busens entdeckte er ein Netz von feinen, bläulich schimmernden Adern wie bei einem Herbstblatt, das man gegen die Sonne hielt. Am meisten aber zog seinen Blick die Kerbe an, die zwischen diesen Halbkugeln verlief und im Ausschnitt des Kleides in einer solchen Schattenschwärze zu enden schien, dass sie wie der Einlass zu einem Geheimnis auf ihn wirkte.
Kaum bei Sinnen hob er den Kopf an, um noch tiefer in diesen Spalt hineinzublicken, als das Gesicht der Frau plötzlich verschwand, sich ihr Körper, ihr Kleid entfernte, einen Augenblick lang der blaue Himmel zu sehen war und er die Worte »Mein Herr, mein Herr!« hörte. Er erkannte Thomas’ Stimme, im Hintergrund bellte Nella, und gleich darauf sah er auch schon dem Knecht in sein von Pickeln und Schorf verunstaltetes Gesicht.
Erschrocken richtete er sich auf und war von einem Augenblick auf den anderen wieder ganz bei sich. Thomas half ihm beim Aufstehen, Nella sprang an ihm hoch und leckte ihm die Hände. Tristan fühlte sich noch unsicher auf den Beinen und ließ sich von Thomas stützen, der ihn hinter Buden und Verschlagen zu einem Haus führte, an dessen einer Seite ein niedriger Stall angefügt war. Thomas stieß eine an Schnüren befestigte Brettertür auf und legte Tristan auf eine Pritsche, gab ihm einen
Weitere Kostenlose Bücher