Tristan
Kleider quollen. Er untersuchte die nächste Umgebung des Lagers, doch von Hoggard war nichts zu sehen. Rasch kehrte er zum Feuer zurück, warf noch mehr trockene Äste darauf, und bald loderte eine Flamme, deren Licht bis weit hinter die Büsche reichte. Dorran wusste, dass er sich bei dem Feuerschein selbst verraten könnte, denn sicher wurde nach den Pferdedieben gesucht. Aber es war ihm gleichgültig: Er schaute hinter jeden Baum, hinter jeden Busch. Hoggard war wie von der Dunkelheit verschluckt, die gleich wieder einsetzte, sobald das Feuer in sich zusammenfiel. Dorran war ratlos. Die fieberhafte Suche nach Hoggard hatte ihn wach gemacht, mit klaren Augen sah er Pint noch immer neben dem Feuer liegen und erblickte jetzt auch das Blut, das aus der Wunde gesickert war und auf dem hellen Hemd einen leuchtend roten Fleck bildete.
Hoggard lebte noch. Doch wo war er? Beobachtete er ihn? Dorran blieb stehen. Er war jetzt der Bedrohte. Es gab kein Holz mehr, um das Feuer zu entfachen, es sank so schnell in sich zusammen, wie die Flammen zuvor aufgelodert waren. Eilig verschnürte er seine Sachen und kroch zu dem Baum, an dem sie die Pferde angebunden hatten. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Morgen abzuwarten. Das Schwert legte er griffbereit neben sich, in der Linken hielt er seinen Dolch, und während er an den dürren Baumstamm gelehnt dahockte, hörte er sein heftiges Atmen. Die Angst vor dieser Welt voller Ungewissheiten verengte ihm die Brust. Seit der Nacht, in der er zusammen mit Isoldes Waldläufern Maol und Kanut in Constantia entführt worden war, konnte er sich an keinen einzigen friedvollen Tag erinnern. Erst hatten sie als Sklaven und Knechte in einem zusammengewürfelten Heer dienen müssen, das irgendwo im Nordosten gegen heidnische Litanier kämpfen musste, dann trennten sich ihre Wege. Kanut und Maol sollten sich einer der Truppen anschließen, die ins Heilige Land zogen, während er, Dorran, in den Listen als Donnan geführt, von nun an abgestellt wurde als Packknecht für Waffenlieferungen über die Alpen. Mehr als fünf Mal hatte er die Berge bisher wie ein Esel überquert, dem man die Augen verbunden hatte und mit Peitschenhieben vorwärtstrieb. Schnee, Steine und Blut, mehr hatte er nicht gesehen. Beim sechsten Mal landete er schließlich in Corenio und war nach dem Umladen des Packguts auf neue Pferde an einer der Feuerstellen auf Hoggard und Pint getroffen. Da er sich mit ihnen verständigen konnte und den Namen Drystan hörte, hatte er schnell einen Entschluss gefasst und war dazu bereit, mit ihnen zu fliehen - der Heimat und der Erfüllung seines Auftrags entgegen, mehr wollte er nicht.
Dorran konnte sich nicht mehr wach halten. Der schwere süße Wein, die Anstrengung seiner Tat, die Umsetzung seines Plans hatten ihn so ermüdet, dass er in Schlaf fiel. Gleichwohl blieb sein Körper wie der eines Wächters in der Haltung, die er voller Anspannung angenommen hatte. Und so - hockend, mit zusammengezogenen Schultern - erwachte er auch. Es war hell um ihn herum, es war nicht die Helligkeit eines angebrochenen Tages, sondern die seines Beginnens. Sein Schwert lag neben ihm, die Hand hielt noch den Dolch. Hinter einer sanften Bodenwelle war die Feuerstelle, daneben lag ein Körper, und in kurzer Entfernung standen die drei Pferde, bewegten ihre Schweife hin und her und blickten zu ihm hin, als er dabei war aufzustehen. Alles tat ihm weh, im Kopf pochte ein heftiger Schmerz. Mit dem Aufstehen, dem Sichdehnen der Glieder kehrte auch die Erinnerung wieder. Der bei der Feuerstelle liegende Körper mit dem zur Seite gewendeten Kopf erschien ihm wie eine Mahnung. Pint!, fuhr es Dorran durch den Kopf, und wie ein Echo folgte der andere Name: Hoggard. Sofort nahm er das Schwert auf und kroch zu Hoggards Schlafplatz, fand Spuren von ihm, Erbrochenes am Rand von Steinen, auf denen er sich abgestützt haben mochte, und zwanzig Schritte davon entfernt noch mehr Erbrochenes zwischen den fingerartigen Wurzeln einer Kiefer.
Dorran hielt im Suchen inne, blickte sich um, atmete, so leise er konnte, lauschte, horchte - hörte nichts außer dem Gesang von Vögeln, der ihm wie Geschrei vorkam. Weg von hier!, dachte er, drehte sich um und lief zum Lagerplatz und den Pferden zurück. Den toten Pint packte er an den Beinen, zog ihn zum nächsten Gebüsch, häufte hastig Tannennadeln und Erde über ihn, vor allem über sein Gesicht. Es sah aus, als wäre Staub daraufgefallen, wie er auch auf Steinen liegen
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