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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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aufgeschnitten. Wenn er sich dann lachend verbeugte und, seine unversehrten Hände und Arme vorzeigend, bewies, dass nirgendwo ein Tropfen Blut geflossen war, schienen alle wie erlöst und atmeten auf.
    Als er aber traurige Verse über Nella sang und dieser Name immer wieder auftauchte, glaubten sie, er sehne sich nach einer verlorenen Liebe zu einer Frau, und konnten dann nicht aufhören, über sich selbst zu lachen, als sie von Courvenal erfuhren, bei Nella handle es sich um eine Hündin, die sie über die Alpen und durch halb Italien bis nach Spanien begleitet habe.
    Der Rausch, die Welt in Gesängen und Vorführungen mit Fantasie zu füllen, verflog allmählich, und Tristan bemerkte, wie die Lust seiner Zuhörer, Neues zu erfahren, mehr an den spectaculae als an innerlich Empfundenem hing. Da änderte er seinen Ton und berichtete ihnen, auf das Holz der Laute trommelnd, von Verwüstungen und Tod, denen sie auf ihren Wegen begegnet waren.
    »Um das zu erleben, hättest du nicht so weit fahren müssen«, unterbrach ihn Rual, sein Vater. »Erst zwei Monde ist es her, da erhielt ich Meldung von einem Überfall auf ein paar Gehöfte südlich der Felsen von Palin. Als wir die Hütten erreichten, lagen sie in Asche, weder Mensch noch Tier, weder Lebendiges noch Kadaver war zu erblicken. Die Häuser waren niedergebrannt, die Zäune eingerissen, der Brunnen vergiftet. Die Bewohner fanden wir an einer lichten Stelle im Wald. Die Leichen waren zu einem Haufen übereinandergeworfen, Kinder, Frauen, Männer. Die Arme hatte man ihnen abgehackt, die Köpfe gespalten. Als wollte man ihnen nicht nur ihr Hab und Gut, sondern auch ihre Seele rauben. Nur der Teufel kann so etwas tun oder Menschen, die alles um sich herum hassen, am meisten aber sich selbst. Wie überdrüssig des Lebens müssen solche Schlächter sein, wie viel Tod ist in ihrem Leben, wie sehr verachten sie ihre eigenen Kinder! Habgier ist nur ein Vorwand zur Zerstörung, Zerstörung nur ein Vorwand für die Habgier. Ihr Atem muss aus giftigem Feuer bestehen, so wie der deiner Drachen, Tristan, von denen du uns singst, aber ich sage dir, es gibt keine Drachen, es gibt nur Menschen, die schlimmer noch als Drachen sind.«
    Rual hatte die Stimme gesenkt, als er so zu Tristan redete. Es war plötzlich ganz still geworden in der Halle, und keiner wagte es, als Erster zu sprechen. Da griff Tristan zu seiner Laute und spielte Töne in derart fein aufeinander abgestimmter Folge lieblicher Melodien, dass sich das lähmende Schweigen in einen wortlosen Gesang verwandelte. Selbst Courvenal, der seinen Schüler doch schon so oft wunderbar hatte spielen hören, erstaunte über einen ihm ganz unbekannten Klang. Sehnsucht lag darin und Vergebung. Die Töne öffneten die Seele für eine andere Welt, die Kunst des Spielens zeigte in die Zukunft und machte Mut, die Kraft aufzubringen, selbst dem schlimmsten Gegner seine Grausamkeiten, seine Schwächen verzeihen zu können. Rual war beiseitegetreten und lehnte sich gegen die Wand. Die schrecklichen Bilder, die er eben noch nachgefühlt und beschrieben hatte, verwandelten sich unter den Klängen der Harfe zu einem farbigen Teppich, in dessen goldenen, roten, grünen, blauen Fäden sogar das schrecklichste Ereignis einen Ausdruck für Schönheit fand. »Im Unglück also wohnt das Glück«, sagte er leise.
    Courvenal, der neben Rual getreten war, hörte dessen Worte und ergänzte sie, indem er flüsterte: »Und die Wahrheit nur im Unwahren. Es gibt kein Gegenteil, nur Teile eines Ganzen, von denen einige sich gegenüberstehen.«
    Es schien, als würde Rual mit dem Kopf nicken. Aber sein Blick, dem Courvenal begegnete, gehörte nicht ihm selbst. Er glitt an ihm vorbei und richtete sich auf Tristan, der auf einem Hocker saß und spielte und in seiner Selbstvergessenheit nur die Harmonie der Klänge wahrnahm, die er selbst erschuf.
     
    Erinnerungen ~ 162 ~ Brüderfeinde
     
    Nach Pfingsten beruhigte und normalisierte sich das Leben in Conoêl. Tristan spürte erst jetzt, dass ihn das Singen, Erzählen und Feiern zum Ende hin müde gemacht hatten. Da er sich der Fürsorge seiner Eltern gewiss sein durfte, genoss er danach beinahe eine ganze Woche lang die Geduld der anderen mit ihm: Er konnte schlafen, so lange er wollte, man brachte ihm Essen nach seinen Wünschen, ließ ihn in Ruhe, wenn er sich allein auf den Weg machte, um die Pfade seiner Kindheit nachzugehen. Nur mit einem Brotbeutel, einem Dolch und einer Flöte am Gürtel schlich er

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