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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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hinauf zum Zinnengürtel der großen Mauer und suchte als Erstes nach dem geheimen Ausstieg, fand aber nur den Verschlag hinter dem Hühnerstall. Soviel er auch an den Steinen der Mauer rüttelte und zog - nirgends öffnete sich eine Falltür in der Erde, durch die er die Burgmauer hinab hätte verschwinden können.
    Da dieser Weg aus der Burg zugeschüttet schien, brauchte er auch nicht mehr sein Versteck. Einen Moment lang war er traurig darüber, vermisste etwas, doch dann sagte er sich, er habe es auch nicht mehr nötig, Conoêl heimlich zu verlassen. Also ließ er sich ein Pferd bringen und ritt durch das Haupttor davon dem Meer entgegen, hinab zu der Bucht, in der er das erste Mal Ortie getroffen hatte. Jetzt fand er dort nichts als Treibgut, morsche Schiffsplanken, aufgerissene Fässer, einen Schuh und den Kadaver eines halben Pferdes, den die See an Land gespült hatte. Ohne dass er es wollte, führten ihn seine Gedanken zu dem Fels, auf dem einst Yella im Fall aufgeschlagen war. Er sah ihn noch immer dort liegen und glaubte erst jetzt zu erkennen, wie sehr das leblose Gebein von Yella verschoben und unnatürlich verrückt vom Körper weggebogen war und der Kopf ganz in den Nacken zurückgeschoben, fast auf der Schulter hängend mit offenem Mund.
    Tristan musste sich die Augen zuhalten, um sich an diesen Anblick nicht weiter zu erinnern, und gestand sich ein, dass er Yella jetzt, nach den vielen Jahren, deutlicher vor sich sah als je zuvor.
    Auch Ortie sah er am schäumenden Wasser entlanglaufen in seiner Erinnerung, ihr Bild vermischte sich mit den herantosenden Wellen, als hätte es das Geräusch allein geschafft, es zu vertreiben. Anders erging es ihm, als er zu der Felsennische hinaufkletterte, in der er einst die mouder gefunden hatte. Möwen hatten dort ihre Nester gebaut, die Felsen und sogar die halb offene Höhle waren längst durch Sturm und Regen von allem Holz befreit, das das Mädchen damals zum Schutz der Sterbenden hinaufgeschleppt hatte. Aber in Tristans Nase stach wieder ein Geruch, der ihn sich abwenden ließ. Damals war er nur erschrocken darüber und davon angewidert, jetzt hielt er sich die Hand vors Gesicht, weil er ihn wiedererkannte, den Geruch der Fäulnis und des Todes, der ihm so oft auf der Reise begegnet war. Zugleich sah er sich, wie er die Alte an ihrem toten Fleisch aus dem Versteck hervorgeholt und sie mit den Füßen über den Felsrand hinuntergestoßen hatte. Er sah auch Ortie, wie sie den Leichnam ihrer Mutter ins Meer schleppte und dabei selbst nicht wieder daraus hervorzukommen schien. Am ganzen Leib hatte er gezittert vor Angst. Und wie erlöst er dann war, als sie sich in den Armen gelegen hatten, nachdem sie sich wiederfanden bei der Bucht, wo sie durchnässt und ermattet mit blauen Lippen saß. Ihren kalten Kopf hatte er an seine Brust gedrückt und die Wärme ihrer Tränen auf seiner Haut gespürt, die unter Jammern und Schluchzen aus ihren Augen liefen.
    Mit einem Gefühl der Unlust kehrte Tristan an diesem Tag in die Burg zurück. Courvenal, der ihn zu sich in den großen Saal bat, in dem er schon seit dem Morgen seine Reisenotate kopierend saß und Ergänzungen aus Tristans Mund wünschte, wies er ab. »Heute nicht, morgen vielleicht«, sagte Tristan und zog sich auf sein Lager zurück.
    Er hatte ein neues Bett bekommen und schlief nun zusammen mit seinen Brüdern, mit Edwin und Ludvik, in einem Raum. Die beiden waren herangewachsen, Ludvik wirkte noch kindlich und frisch. Er verehrte seinen großen Bruder, den vielgereisten, hing an seinen Lippen, als würden daraus all die mcere hervorquellen, nach denen er sich sehnte: die großen Abenteuer, die das Leben jenseits der Burg jedem anboten, der es nur wagte, den Schutz der Mauern zu verlassen.
    Edwin hingegen, der nur um ein Jahr Jüngere, hielt sich zurück bei der Freude über Tristans Wiederkehr. Bislang war er der Älteste gewesen und auch der Anwärter auf seines Vaters Thron, den er für den Edlen hielt, der ganz Parmenien vorstand. Jahrelang hatte man kaum etwas von Tristan gehört, und allgemein war bekannt, wie gefährlich es war, die Burg zu verlassen und auf Reisen zu gehen. »Der Tod reist immer mit«, hieß es, und dieses Wort stammte nicht aus Kindermund. Edwin hoffte im Stillen darauf, dass es sich eines Tages bewahrheiten würde. Wie Tristan dann plötzlich wie aus dem Nichts und dem Grau regnerischer Tage wieder auftauchen konnte, war ihm ein Rätsel.
    Zwangsläufig nahm er an den Veranstaltungen

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