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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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zurückgestoßen. So empfinde auch ich oft meine Gegenwart.
    Während Courvenal an dem, was sich um ihn herum abspielte, nicht vorbeisehen konnte, verschloss Marke willentlich die Augen davor. In manchen Nächten schlief er bei Isolde, und sie ließ zu, was er von ihr forderte, bis er gesättigt und ermattet auf sein Lager sank. Wenn er sie neben sich leise weinen hörte, fragte er nicht nach dem Warum, sondern drehte sich auf die andere Seite und wünschte sich Wachs, das er sich in die Ohren stopfen könnte.
    Tristan hingegen verbarg seine unerfüllte Liebe hinter geschäftiger Tätigkeit. Von morgens bis abends war er auf den Beinen und sorgte sich um die Belange seiner Ritter und der Burg. Er besprach Kampfübungen und Truppenaufstellungen und schien gleichzeitig in den Plänen der Architekten zu lesen. Er arrangierte die Arbeitstruppen, scheuchte Marjodô zu den Baustellen und wimmelte Melôt ab, der ihm wie Hiudan ständig auf den Fersen zu sein schien. Es war kaum zu übersehen, dass Marke den Zwerg auf ihn angesetzt hatte, um ihn zu überwachen. Wen sollte Marke unter seinen Dienstleuten auch sonst für eine solche Aufgabe abstellen? Die Ritter waren zu eigenständig und die Knappen zu einfältig. Tristan hatte außer Courvenal und Brangaene keine Verbündeten am Hofe, nachdem Isoldes Zofe Genifer vom Hof entfernt worden war: Sie erwartete ein Kind. Man munkelte, es sei vom König. Brangaene glaubte sogar fest daran und verlor ihre grenzenlose Achtung vor Marke, dessen Lauterkeit sie bislang stets verteidigt hatte. Ihre Enttäuschung verband sie umso inniger mit Tristan und Isolde.
    Bei der täglichen Sichtung der Burgpläne war Tristan auf die Zeichnung eines separaten Ganges gestoßen, der, von einem der Flure abzweigend, zu einem Nebenraum von Isoldes Gemächern führen musste. Ob der lang gezogene Hohlraum tatsächlich existierte, konnte er nicht nachprüfen, weil er keinen Zutritt zu diesen Örtlichkeiten hatte. Er fertigte eine Kopie des Plans an und spielte ihn Brangaene zu. Als Isoldes Zofe ihm bestätigte, dass es neben Isoldes Gemach tatsächlich eine dunkle, mit Gerumpel vollgestellte Kammer gab, zu der aber nur vom Schlafraum aus eine unscheinbare Tür führte, schrieb Tristan Isolde einen kurzen Brief, sie solle sich dort einen Altar für einen ihrer eruischen Götter einrichten und ein Lager. Nur wenige Tage später erhielt er von Brangaene mit einem verschwörerischen Ausdruck auf dem Gesicht die Nachricht, dies sei wie gewünscht geschehen. Sie trafen eine Verabredung.
    Es war eine Nacht gegen Ende der Herbstzeit, als Tristan das erste Mal die Nebenkammer betrat. Tage zuvor hatte er seine Zeit damit verbracht, unauffällig im Flur nach der geheimen Tür zu suchen, die zu dem Gang führte, den er auf dem Plan entdeckt hatte. Die Tür befand sich in einer der Flurnischen, war mit einer schweren hölzernen Bank verstellt und wie die Wand mit Kalk übertüncht, sodass man den Eingang nur erkennen konnte, wenn man von ihm wusste. Außerdem fehlten an ihr eine Öffnungsschnalle oder ein Schloss. Zum Glück lag die Nische nahe bei einem Knick, den der Hauptflur an dieser Stelle machte, sodass die patrouillierenden Wachen keinen direkten Einblick hatten. Zwei Dutzend Schritte weiter befand sich die Tür zu Isoldes Gemach, die man erst erblicken konnte, wenn man der Biegung des Flurs folgte. Noch weiter entfernt, in der Nähe einer Gabelung, ging es dann auf der anderen Seite zu König Markes Gemächern. Wegen dieser verwinkelten Anlage fand Tristan zwischen den Patrouillen immer wieder genug Zeit, um nach und nach herauszufinden, wie er die Tür mit einem Haken öffnen und wieder von innen schließen konnte. An einen der Füße der Holzbank band er einen Strick, mit dem er sie durch den Türspalt wieder gegen das Gemäuer ziehen konnte, sodass man von außen keine Veränderung mehr bemerkte. Hinter der Tür hatte er einige Lämpchen deponiert, denn der lang gezogene Hohlraum des Ganges lag in völliger Finsternis, und der holprige Boden war übersät von aus dem alten Mauerwerk gefallenen Steinen.
    In der Nacht, als Tristan sich entschloss, in Isoldes Kammer zu gelangen, hörte er Marjodôs beleibten Körper wie einen Blasebalg wohlig schnaufen, denn in den letzten Becher Wein, den der Truchsess gerne trank, bevor er sich hinlegte, hatte Tristan ein paar Tropfen eines Mittels hineingegeben, das ihm Brangaene zugesteckt hatte. Nun schlich er durch den Flur und verschwand hinter der verborgenen Tür.

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