Tristan
Mit einem Lämpchen in der Hand tastete er sich durch den kaum schulterbreiten, nicht enden wollenden Gang, in dem es nicht einmal Ratten zu geben schien, und stand plötzlich vor einer Wand aus dicken, durch Eisenklammern zusammengehaltenen Bohlenbrettern. Wieder fanden sich nirgends ein Riegel oder Verschluss. Erst drückte er mit den bloßen Händen gegen die Bretter, dann stemmte er sich mit seiner ganzen Kraft dagegen, bis die Wand unter Knarren und Ächzen Stück für Stück nachgab und sich nach außen schieben ließ. Auf der anderen Seite waren ein Poltern und Schaben zu hören und mit einem Mal auch kurze spitze Schreie, die er sogleich als die von Isolde erkannte. Mit klopfendem Herzen und voller Vorfreude rief er ihren Namen, drückte noch einmal gegen die schwere Tür und stand, von Staub bedeckt, in einem von Kerzen beleuchteten niedrigen Raum. Isolde wartete auf ihn mit ausgebreiteten Armen. Die beiden konnten lange ihr Glück kaum fassen und überdeckten gegenseitig ihre Gesichter mit Küssen. Tristan durchströmte zudem wieder das unbeschreibliche Gefühl der Befreiung, das er aus seiner Kindheit kannte.
»Sieh nur, was du angerichtet hast!«, lenkte Isolde ihn ab und löste sich von ihm vor Freude lachend. Mit der Tür, die einer Bretterwand glich, hatte er ein davorstehendes Regal zur Seite gedrückt, das jetzt schief und verzogen gegen eine Ecke lehnte. Bücher und Gefäße, die Isolde auf den Brettern platziert hatte, waren heruntergefallen. An der Wand gegenüber hatte sie einen niedrigen Altar aufgebaut und dort eine Schale mit Lämpchen umstellt, in deren Mitte gülden eine Kugel strahlte, die an die Sonne erinnerte. Gleich daneben war ein schmales Lager eingerichtet, ausgelegt mit Kissen und schimmernden Stoffen. Auf dem unebenen Boden lagen weiche Teppiche übereinander, sodass man glauben konnte, man ginge über einen Moosgrund. Tristan kam aus dem Staunen nicht heraus, sah die Tür, die zu Isoldes Gemach führte, und blickte zuletzt an die Decke. »Wir haben sogar ein Fenster«, sagte er verwundert. In ein Loch zwischen den Steinen waren Glassplitter eingesetzt und mit Wachs oder Blei aneinandergefügt. Tagsüber oder bei Mondschein würde sogar natürliches Licht in die Kammer fallen! »Unsere zweite Liebesgrotte«, flüsterte Tristan. Dann wandte er sich dem Altar zu, um nachzuschauen, was da so leuchtete. In der Schale lagen Steine, vom Meer geschliffene Kiesel, und Kristalle, geschlagen aus den Stollen der Bergwerke. In der Mitte aber ruhte strahlend im Glanz des Goldes Riwalins Kugel! Sie drehte sich langsam um sich selbst. Tristan rieb sich die Augen. Er vermochte nicht zu glauben, was sich da vor ihm abspielte.
»Ein Zeichen für unser Glück!« Isolde war neben ihn getreten. »Ich kann auch nicht verstehen, was da geschieht. Als wir diese Kammer so hergerichtet hatten, wie sie jetzt ist, sagte ich zu Brangaene - die Einzige die außer dir von ihr weiß -, nun würde noch etwas von dir fehlen. Ich schickte sie in deine Kemenate, als ich wusste, dass ihr, Marjodô und du, unterwegs auf den Wällen wart, um mir etwas aus deiner Kleidertruhe zu bringen. Sie fand die Kugel. Etwas Schöneres, was dir gehörte, in den Händen zu halten, konnte ich mir gar nicht vorstellen. Und da ich gerade die Schale mit den Steinen aus meiner Heimat gefüllt und Wasser dazu gegossen hatte, damit sie schön glänzten, machte ich in die Mitte eine Vertiefung und legte die Kugel hinein. Du weißt, wie schwer sie in der Hand wiegt! Doch als ich sie absetzte, schwamm sie! Sie tut es immer noch unentwegt - und dabei dreht sie sich um sich selbst und leuchtet wie die Sonne. Es ist ein Zeichen! Es kann nur ein Zeichen sein!«
Isolde und Tristan brachen gleichzeitig in Tränen aus. Sie fühlten das Recht in ihrem Glück. »Dies ist mein eruisch-tristanischer Raum, mein dunfogou«, flüsterte Isolde. »Und das ist unser Lager.« Isolde wies auf die Bettstelle mit einer Geste, die eine Einladung bedeutete.
»Heute nicht«, stieß Tristan atemlos hervor und musste sich zurückhalten, sich nicht gleich der Verführung hinzugeben. »Ich muss erst prüfen, ob auch der Rückweg gelingt.« In seinem Eifer, gemischt aus Begierde, Angst und Fürsorge, küsste er Isolde kurz auf den Mund und versuchte danach, die Tür, durch die er gekommen war, wieder zu öffnen. Nach einigem Zerren und Reißen gelang es ihm. »Das muss besser werden«, sagte er vor sich hin, »ohne Widerstand und möglichst lautlos. In drei Tagen
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