Tristan
anderem Gesindel bedroht wurden. »Wenn es doch immer nur regnen würde«, sagte er einmal, »dann hätten wir ewig Frieden.«
»Aber dann brauchten wir auch mehr Bücher«, sagte Tristan. Er saß auf dem Boden und spielte mit seinen Brüdern ein Spiel, das er sich ausgedacht hatte. Mit einem Kreidestein hatte er ein Feld aus Quadraten auf den Fliesenboden gezeichnet, und einer der beiden Spieler bekam fünf Steine, der andere fünf Holzstücke. Diese Spielfiguren mussten nun Feld für Feld bis zur Grundlinie des Gegenspielers gerückt werden. Standen sich zwei Figuren gegenüber, durfte nur auf eines der diagonalen Felder ausgewichen werden. Zusätzlich gab es noch einige Regeln, nach denen man den Gegner überspringen oder einen Stein isolieren durfte. Manchmal änderte Tristan diese Regeln je nach seinem Vorteil, weshalb es dann Streit unter den Brüdern gab. Sie wurden laut, und die Erwachsenen unterbrachen das Spiel.
Tristan akzeptierte das meist gleichgültig, verwischte das Kreidefeld, nahm die Steine und Holzstückchen an sich, zog sich in eine Ecke der Kemenate zurück, malte ein neues Feld auf den Boden und spielte nun gegen sich selbst. Dabei sprach er halblaut, als würde er mit dem Gegner streiten. Oft wechselte er auch seinen Platz und nahm den des imaginären Kontrahenten ein. Wenn er ein Spiel beendet hatte, trommelte er mit den Fäusten auf den Boden und rief: »Ich habe gewonnen!« Dann lachten die anderen Kinder, und die Erwachsenen schauten zu ihm hin und schüttelten missbilligend den Kopf. Nur Courvenal nicht. Der klatschte in die Hände und beglückwünschte seinen Schüler zu seinem Sieg. Daraus wurde wiederum Tristan nicht schlau, denn natürlich war es kein richtiger Sieg, den er da für sich feierte. Es war nur ein Sieg im Spiel, und für Tristan war alles, was er tat und lernte, wie ein Spiel. Beim nächsten Mal, als Courvenal wieder in die Hände klatschte und seine Eltern sogar übermütig darin einfielen, stand er erbost auf und sagte beleidigt: »Warum klatscht ihr? Ich weiß, dass ich nicht gewonnen habe.«
»Doch, das hast du«, sagte Courvenal ernst.
»Aber nicht wirklich. Ich habe nur gegen mich selbst gewonnen, und das gilt nicht.«
»Doch, das gilt!« Courvenal winkte ihn heran und forderte ihn auf, sich an den Tisch zu setzen. »Du hättest schließlich auch verlieren können.«
»Höchstens, wenn ich nicht als Erster meinen Stein gesetzt hätte.«
»Du setzt immer den ersten Stein, auch wenn du ihn als Zweiter setzt.«
Tristan merkte, dass seine Eltern dem Gespräch zuhörten. Das verunsicherte ihn. Er wollte nicht mehr mit Courvenal eine disputatio führen, wie der es ihm beigebracht hatte, Rede und Gegenrede. Aber er konnte es sich nicht verkneifen hinzuzufügen: »Dann ist die Zeit daran schuld, wer verliert oder gewinnt.«
»Was hat das mit der Zeit zu tun?«
»Wer anfängt, ist Erster auch in der Zeit und immer im Vorteil gegenüber dem Zweiten.«
»Trotzdem kann der Erste verlieren und wird Zweiter.« Courvenal ließ nicht locker.
»Am Ende vielleicht, wenn es keine Zeit mehr gibt.«
»Warum soll es am Ende keine Zeit mehr geben?«
»Weil das Spiel vorbei ist.«
»Auch das Spiel gegen dich selbst?«
Tristan zögerte. Er wollte gern etwas sagen, um dieses Rede-Antwort-Spiel fortzusetzen, aber er wusste nicht, was. »Ich habe Durst«, sagte er schließlich. Floräte gab ihm ihren Becher. Damit war das Gespräch beendet. Gegen die dicken Glasrauten der Fenster schlug immer noch der Regen.
Schimmel und Moder ~88~ Durchfall und Fieber
Von überall her hörte man in diesen Tagen, dass der unablässig fallende Regen die nächste Ernte vernichten würde. Die Bauern erschienen klagend auf der Burg. Ihre Felder standen unter Wasser. In den Lagern verschimmelten die Vorräte an Weizen und Hafer. Mais und Rüben begannen zu faulen. Nur der eingesalzene Fisch hielt noch, und den gab es jetzt fast jeden Tag, manchmal sogar am Morgen, weil sonst nicht viel anderes da war außer Hühner und Enten. Die Hälfte der Leute, die in der Burg lebten, waren krank, hatten Fieber, husteten, hielten sich den Bauch vor Schmerzen, und das Wasser lief ihnen aus der Nase. Das Stroh, mit dem die Unterlagen der Betten ausgeschlagen waren, roch nach Moder. Die Feuchtigkeit kroch durch alle Kleider bis auf die Haut, das Leder der Schuhe konnte nicht mehr trocknen. Es gab kaum noch Holz, das brennen wollte. Meist glommen nasse Kohle und Scheite vor sich hin, die Räume waren
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