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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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Geschichte, wie er bei diesem Wetter nach Conoêl gefunden haben wollte, schürten seine Zweifel. Von Norden sei er gekommen auf einem Schiff voll mit Sklaven, erzählte er mit süßer Stimme. An Irlands Küste hätten sie haltgemacht, seien dort Monate vor Anker gelegen, bis Druiden weissagten, ein Sturm käme auf, den alle zu fürchten hätten. Da seien sie losgesegelt, und auf halber Fahrt habe sie dieser Sturm eingeholt und ihr Schiff »hier irgendwo ganz in der Nähe« an Land geworfen. Dass ihnen dies Unglück geschehen würde, auch davon hatten die Druiden gesprochen, und eine Frau würde ihnen begegnen, deren Hände und Füße ganz aus stinkenden Algen bestünden.
    »Und die imaginatio sei realissimus vor Euren fürstlichen Augen«, sagte Weinand mit heftigen Armbewegungen, während sie am Abend nach seiner Ankunft am Tisch saßen und eine Fischsuppe löffelten, »so geschah es tatsächlich!« Er ließ seinen Holzlöffel in die Schüssel fallen, starrte vor sich hin, Schweißperlen sammelten sich auf seiner breiten Stirn und rannen ihm zur Nasenwurzel hin. »Stellt Euch also vor«, fuhr er fort, seine Stimme fast zu einem Flüstern senkend, »wir - was heißt wir? -, ein paar Leute aus der Mannschaft, hatten den Aufprall gegen einen Felsen überlebt, fanden uns in den wütenden, eiskalten Wassern wieder, ich hörte noch die Schreie meiner Gefährten, dann war nur noch Getöse um mich herum, und ich begann zu schwimmen, denn ich kann ja schwimmen, ich kann es ja« - er war von der Bank aufgestanden und machte mit den Armen Bewegungen wie eine Robbe, die dem Meer entgegeneilt -, »aber die anderen nicht! Ich rief nach ihnen, das halbe Meer schwappte mir dabei in den Mund, ich schwamm und schwamm wohin auch immer und fühlte mich bereits verloren, gab schon auf, da packte mich etwas an den Handgelenken und riss mich voran durch die Fluten.«
    Alle am Tisch starrten entsetzt auf Weinand, und Tristan hatte dessen aufgeblähten Körper inmitten des schäumenden Wassers vor Augen, angefüllt mit Luft. Er glaubte Weinand jedes Wort, und jedes Wort war ein Beweis für das, was diesem Mann tatsächlich widerfahren war.
    »Glitschiger Tang war es, der meine Handgelenke umfasste«, fuhr Weinand fort, »und ein Gestank ging davon aus, dass ich den Wunsch in mir verspürte, im Meer zu versinken. Aber diese grün-gelb-schwarzen Schlingen zerrten mich mit sich fort, ich musste mit den Beinen schlagen, um über Wasser zu bleiben, und als ich mich mit einem Mal über die brausenden Wellen hinausgehoben fühlte, sah ich in das Gesicht einer alten Frau. Sie schwamm vor mir, war nur noch ein Skelett, doch an ihren Rippen hingen Brüste voller Milch.« Weinand hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht noch einen einzigen Laut aus seiner wohlklingenden Kehle herauskommen zu lassen, sah sich um, erblickte Tristan, entschuldigte sich, das sei wohl zu deutlich gewesen, wenn so ein Knabe noch mit am Tisch säße, und wollte sich setzen.
    Da schritt Courvenal ein, legte Tristan den weiten Ärmel seiner Kutte übers Gesicht und sagte: »Erzähl weiter, was du erlebt hast. Ich beschütze meinen Freund hier, und wenn es gar zu wild wird, dann halte ich ihm die Ohren zu.«
    Leises Gelächter entstand. Sogar Rual, der sonst immer bedächtig reagierte, starrte auf den Mund des Erzählers und forderte ihn mit einem atemlos gehauchten »Weiter!« heraus.
    Weinand ließ sich nicht lange bitten. »Zuerst glaubte ich noch an ein Traumbild«, begann er ruhig und gab seiner Stimme einen vertrauensvollen Klang, der alle zu besänftigen schien. »Eine Chimäre, dachte ich, und sah nicht das Gerippe und den Totenkopf, sondern die vollen Brüste.« Kaum hatte er das gesagt, steigerte sich seine Stimme und übernahm wieder die Herrschaft über alle Geräusche im Raum, über das pfeifend zischende Feuer und den Regen, der unaufhörlich gegen die Fenster trommelte. »Diesen Brüsten folgte ich - als folgte ich meiner Wollust, wie wir es doch alle tun, wenn wir die Gelegenheit dazu haben -, Bruder Courvenal möge mir verzeihen! Ich vergaß, in welcher Situation ich mich befand. Das Meer rauschte zwar um mich herum, ich aber fühlte mich darin geborgen wie auf einer Insel oder einem Floß. Doch dann riss die Alte plötzlich ihren Kiefer auf. Ich glaubte, das Klappern der Zähne zu hören, und mit einem Mal auch hatte sie Augen, leuchtende Augen. Erschrocken sah ich genauer hin, erblickte durch ihre Augenhöhlen die Leuchtfeuer an der Küste, und der Spuk

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