Tristan
raffte ihren Rock, deutete einen Knicks an und lief jammernd aus dem Raum.
Tristan war wie erstarrt. Vor seinen Augen entstand das Bild einer abgeschnittenen Zunge. Er sah sie auf einem Holzteller liegen, doch in seiner Fantasie bewegte sich die Zunge, als würde sie sprechen, sie rollte sich ein und streckte sich aus, machte eine leichte Wellenbewegung, glitt zurück und sagte: »Ich.«
Der Junge legte die Hände vor die Augen, um dieses Bild nicht mehr zu sehen. Dann schlüpfte er schnell in seine Schuhe, band sie über den Knöcheln fest und rannte zur Tür. Der lange dunkle Flur, von dem die Kemenate abging, war leer. An seinem Ende war das Tor des Ausgangs auf den Hof einen Spalt weit geöffnet. Von dort kamen Stimmen. Als Tristan Augenblicke später den Hof betrat, sah er vor dem Eingang zum Turm eine Menge Leute stehen, Soldaten der Burgwache, Mägde und Knechte. Sie bildeten eine Gasse, durch die sich etwas bewegte. Von der erhöhten Treppe zur Burg erkannte Tristan Elbeth, auch wenn ihr Kopf mit Tüchern umwickelt war, er erkannte sie an ihrer Haltung. Auf dem Rücken trug sie einen Sack. Sie schleppte sich mit unsicheren Schritten voran. Hinter ihr ging Tristans Mutter, begleitet von zwei Wachsoldaten. Floräte schien Elbeth wie ein Schaf vor sich her zu treiben. Auch seinen Vater erkannte Tristan. Rual schien auf die gaffenden Leute mit ernsten Worten einzureden, denn allmählich löste sich der Pulk auf. Nach einer Weile hielten nur noch Elbeth, Floräte und die beiden Soldaten auf das große Burgtor zu. Bevor sie es erreichten, rannte Tristan los. Laut rief er Elbeths Namen. Wie angewurzelt blieb sie stehen, wandte sich aber nicht um. Auch Floräte hatte den Namen rufen hören, und später noch wunderte sie sich darüber, dass sie Tristans Stimme nicht wiedererkannt hatte, sondern glaubte, jemand von Elbeths Verwandten sei das gewesen.
»Macht das Tor auf!«, befahl sie den Wächtern und gab Elbeth einen Stoß in den Rücken.
Elbeth stolperte vorwärts, hielt den Kopf gesenkt und stützte sich auf den Stab, den man ihr gegeben hatte.
Da stand plötzlich, wie aus dem Boden gestampft, Tristan vor ihr. »Elbeth«, sagte er und versuchte, in ihr Gesicht zu sehen, »Elbeth, wo willst du hin? Was haben sie mit dir gemacht?«
»Tristan!«, rief Floräte erschrocken. »Lauf in die Burg zurück. Das hier ist nichts für kleine Jungen.«
»Ich bin Tristan!«, sagte er herrisch, ohne Floräte anzusehen. Stattdessen trat er nun ganz dicht an die Amme heran, so dicht, dass die Wachsoldaten etwas befürchten mussten und einschreiten wollten. Floräte hielt sie mit einer Armbewegung zurück. Im selben Moment sank Elbeth auf die Knie. Vorsichtig zog sie das Tuch vom Gesicht. Tristan starrte sie voller Entsetzen an. Mund und Wangen waren aufgequollen und rot und blau angelaufen, aus der Nase und zwischen den eingerissenen Lippen sickerten Schleim und Blut in das verkrustete Tuch, die Augen blickten gebrochen und wie von weit her auf den Jungen. Kaum wiederzuerkennen war die Amme, ein Bild der Schmerzen und der peinigenden Gewalt, die sie in der vergangenen Nacht erlitten haben musste. Dann öffnete sich Elbeths Mund. Tristan sah in ein dunkles zungenloses Loch, und zusammen mit rötlichem Speichel kam daraus nur ein einziger Laut hervor, kaum zu verstehen, gequetscht, halb verschluckt, wässrig und stöhnend. Elbeth sagte: »Ich…« Mehr brachte sie nicht heraus, obwohl sich ihre Lippen noch zu bewegen schienen. Sie verdeckte mit zitternder Hand wieder ihr Gesicht hinter dem fleckigen Tuch, erhob sich mühsam und schleppte sich weiter dem Tor entgegen. Tristan machte auf der Stelle kehrt und rannte zurück in die Burg.
Ruals Bitte ~12~ Die goldene Kugel Riwahns
Tristan versteckte sich viele Tage lang hinter dem Vorhang seiner Schlafstätte. Floräte, Rual, Merla - alle wies er ab. »Lasst mich in Ruhe«, grollte er, wenn sie ihn zum Essen aufforderten. Merla schob ihm seine Schüssel aufs Bett. Er wischte sie mit einem Schlag auf den Boden, hörte den Tonscherben zu, wie sie zersplitterten, und vernahm das Stöhnen von Merla.
Manchmal, wenn er wusste, dass niemand im Zimmer war, legte er Reisig ins Feuer nach oder nahm sich ein Messer und ein Stück Holz und schnitzte daran herum. Tristan trauerte um Elbeth. Sie hatten sie der Burg verwiesen, und er ahnte, dass er sie nie wiedersehen würde. Genauso wenig wollte er seine Mutter sehen, und sogar Edwin schickte er weg, wenn er mit ihm spielen
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