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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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schlüpfte er in seine Kleider und ließ dabei keinen Moment lang seinen Dolch aus den Augen.
    Courvenal sammelte die Schüssel und das Stück saboon auf - und als Letztes die von Laub halb verdeckte Kugel. Sie glänzte nicht mehr. Verärgert ließ er sie in einen Lederbeutel fallen, den er an einem Riemen um den Hals trug. In dem Beutel bewahrte er auf, was ihm das Liebste war: sein Schreibzeug. Dann wandte er sich ebenfalls den Pferden zu.
     
    Gen Osten 96~ Nie zuvor Gesehenes
     
    Die Reise ging gen Osten, über Straßen, durch Wälder, sie überquerten Flüsse auf Flößen, und nichts geschah ihnen. An Siedlungen kamen sie vorbei, geplünderten Gehöften, begegneten um Brot bettelnden Kindern, und manchmal lagen Tote am Straßenrand. Courvenal ritt daran wortlos vorbei, Tristan sah alles, sagte aber ebenfalls kein Wort. Die Gangart der Pferde war stets langsam, fast gemächlich. Nur wenn Hunde plötzlich kläffend aus einem Seitenweg oder von einem Gehöft her angerannt kamen, gaben sie den Pferden die Sporen und ritten eilig davon. Denn Hunde waren unberechenbar und manche von ihnen so hungrig, dass sie schon Pferde angefallen hatten, um ihnen ein Stück Fleisch aus der Flanke zu beißen. Auch hatte Courvenal die Köpfe von Hasen oder wertlose Stücke von Wildhühnern, die sie im Wald oder auf den Wiesen erlegt hatten, aufbewahrt. Diese Stücke warf er den Hunden hin, die sich gleich mit Gejaule darum stritten und von den Pferden abließen.
    »Wohin reiten wir?«, hatte Tristan seinen Lehrer in den vergangenen Tagen immer wieder gefragt. »Gen Osten«, antwortete Courvenal dann, mehr nicht. Anfangs verunsicherte den Jungen die Einsilbigkeit, das schweigende Nebenoder Hintereinanderherreiten, doch nach ein paar Tagen hatte er sich daran gewöhnt und stellte keine Fragen mehr. Da sie so langsam vorankamen und Courvenal die Richtung und die Wege zu kennen schien, verließ sich Tristan auf seinen Führer. Er begann, nicht mehr so sehr auf Courvenal als vielmehr auf die Umgebung zu achten.
    Wenn sie haltmachten, um die Pferde an einem Teich in Ruhe trinken zu lassen, nutzte Tristan die Gelegenheit, sich die Pflanzen und Bäume, Blüten und kleinen Tiere genau anzusehen. Anfänglich tat er das nur, um sich zu zerstreuen oder weil sein Blick auf einen Käfer oder eine Libelle gefallen war und er die Formen und Bewegungen der Insekten verfolgte, während er an der Böschung eines kleinen Baches saß.
    Tiere, kleine Tiere, hatten ihn früher nie interessiert; auf Conoêl hatte er sie totgetreten oder totgeschlagen, wenn sie ihm über den Weg liefen oder in den Räumen herumflogen. Sah oder hörte er ein Tier, ganz gleich ob Mücke oder Hase, Schnecke oder Möwe, wollte er es erlegen oder vernichten, treffen und erbeuten. Pflanzen und Kräuter waren für ihn nur wichtig gewesen, wenn er sie essen konnte, Gräser und Weidenruten nur, um daraus eine Matte oder einen Korb zu flechten, und Bäume waren für ihn Holz gewesen, mit dem man Feuer machte. Das waren die guten Bäume, die anderen, die schlecht brannten, beachtete er gar nicht oder schätzte sie nur, weil man ihr hartes Holz als Prügel verwenden konnte. So hatte er es von den Wachmännern und Reitern auf Conoêl gelernt.
    Nun saß er manchmal unter Bäumen oder stieg auf sie hinauf, während Courvenal eine sesta machte, einen kleinen Schlaf zur Mittagszeit, wie er es nannte, und begriff, dass diese riesigen, starken, ihn tragenden Pflanzen (plantae nach Courvenals Auskunft) lebten, viel älter waren als er selbst und sich auf wunderbare Weise zu Gestalten entwickelten, die sich in ihrer Ganzheit schon in der Form ihrer Blätter fanden.
    Der Lindenbaum wurde für Tristan das schönste exemplum dafür. Manchmal, wenn sie auf ihrem Weg auf eine allein stehende ausgewachsene Linde stießen, riss er ein Blatt von einem Ast, ritt eine Strecke voran oder zurück, hielt dann das Blatt am ausgestreckten Arm gegen die Silhouette des Baumes und konnte damit das entfernte Bild des Baumes abdecken, als wären Stamm, Äste und die unzähligen herbae daran in dem einen Blatt enthalten.
    Congruentia - dieses Wort ließ Courvenal einmal beiläufig fallen, um Tristan die Übereinstimmung des Teils mit dem Ganzen zu erklären. Doch sonst mischte er sich nicht in die Entdeckungen ein, die sein Schüler machte. Er unterstützte ihn nicht bei der Sammelsucht nach Blättern, Schmetterlingsflügeln, toten Bienen, die Tristan plötzlich ergriffen hatte - aber er hinderte ihn auch nicht

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