Trix Solier - Odysee im Orient - Lukianenko, S: Trix Solier - Odysee im Orient - xx
Mann oder, ihrem Alter gemäß, wie ein Junge. Hätte Trix jenen zwischen den Felsen flatternden, regenbogenfarbigen Schmetterling gefangen und ins Becken geworfen – nicht eine Träne hätte Tiana vergossen.
Aber nein, es musste ja unbedingt ein Edelweiß sein!
Die Blume der besinnungslosen Liebe!
Als ob sich die junge Fürstin nicht an die sentimentale Chronik Abenteuer des Merc Palier, des kühnen Knappen mit zahllosen Vorzügen und Unzulänglichkeiten erinnern würde! Mehr als einmal hatte Tiana dieses Werk gelesen, das jede des Lesens kundige Frau kannte. Es berichtete von der ungestümen Liebe zwischen einem tapferen jungen Knappen und einer wunderschönen Fürstentochter. Die Tränen der edlen Damen dreier Generationen aus dem Hause Dillon hatten das Papier fleckig und wellig werden lassen. Tiana hatte diesen Spuren die eigenen Tränen hinzugesellt. Besonders viele Tränen fielen auf jene Seiten, in denen der von einem vergifteten Pfeil verwundete Merc sich ans Sterbebett der ebenfalls vergifteten Fürstin schleppte, um ihr ein Edelweiß zu bringen, jene Blume der besinnungslosen Liebe. Sie allein vermochte das Gift zu besiegen. »Nimm diese magische Blume, Fürstin!«, hauchte der aus dem Leben scheidende Knappe mit brechender Stimme. »Schlucke sie und du bezwingst den Tod!« – »Nein, mein Liebster!«, widersprach die Fürstin. »Iss sie selbst! Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du am Leben bleibst!«
Wie nicht anders zu erwarten, starben beide.
Bei der Lektüre beschäftigten Tiana allerdings auch Gedanken, die bei einer adligen Dame überraschten (wobei anzumerken wäre, dass bei einer echten adligen Dame jeder Gedanke überrascht): Warum haben die beiden die Blume nicht einfach geteilt? Hatte die Fürstentochter zu wenig Diener, um sich aus den Bergen gleich einen Armvoll Edelweiß besorgen zu lassen? Was ist das für ein seltsames Gift, gegen das eine gewöhnliche Blume hilft? Wäre es nicht trotz allem besser gewesen, der Bitte des verliebten Jünglings zu entsprechen und die lebensrettende Blume zu essen, damit dieser in dem Bewusstsein stirbt, seine Pflicht erfüllt zu haben – und nicht kurz vor dem Ende erkennen muss, dass seine Angebetete eine aufgeblasene, romantische Närrin ist?
Trotz dieser Ungereimtheiten besaß die melodramatische Geschichte eine Kraft, die Tiana schlicht überwältigte. Als sie deshalb in Trix’ Hand ebendieses unscheinbare Edelweiß erblickt hatte (nach der Lektüre hatte Tiana unverzüglich nach Edelweiß verlangt, am Abend einen ganzen Berg davon erhalten und sich die Pflanze für alle Zeiten eingeprägt), war ihr das junge Herz aufgeregt in der Brust geflattert.
Und dann … die Blume der besinnungslosen Liebe … in vergiftetes Wasser!
Während Tiana verbissen den Berg hochstapfte, dachte sie noch einmal über alles nach.
Gibt es hier nicht eine gewisse Parallele zwischen der Chronik und dem Leben?, fragte sie sich.
Der schöne, doch letztlich dümmliche Merc hatte ein Edelweiß besorgt – aber seine Liebste nicht vor dem Gift retten können. Der weit weniger romantisch veranlagte, dafür aber so vertraute, gute und ruhmreiche Trix hatte dieses Edelweiß klüger zu verwenden gewusst – und ihre Vergiftung verhindert!
Ohne es selbst zu wissen, näherte sich Tiana damit jener Weisheit, die einige Frauen erst mit fortgeschrittenen Jahren erreichen, andere nie: Prachtvoll und großartig ist der Kavalier, der mit seiner Dame durch dunkle Alleen spaziert, dort auf böse Räuber trifft und sie alle in einem hitzigen Kampf in die Flucht schlägt. Prachtvoller und großartiger aber noch ist jener Kavalier, der mit seiner Dame durch helllichte Alleen spaziert, in denen sich keine Räuber herumdrücken, ihr ein Eis kauft und sie mit charmantem Geplauder unterhält.
Ob sie vielleicht ungerecht und überstreng gewesen war?
Tiana blieb stehen und betrachtete Trix wohlgefällig, der schnaufend hinter ihr herstiefelte. Er schaute finster drein und murmelte lautlos etwas vor sich hin, sah aufmerksam bald zum Abgrund, bald auf die Felsen, das Schloss vor ihnen und den Weg hinter ihnen.
»Ich bin nicht mehr böse, Trix«, sagte Tiana zärtlich.
Leider hatte sie für dieses Geständnis den denkbar ungünstigsten Moment gewählt. Noch vor einer Minute hätte Trix ausgerufen: »Tut mir leid, dass ich die Blume zerstört habe!« Eine Minute später hätte er großherzig genickt und versichert: »Schwamm drüber, wir haben jede Menge zu tun!«
Aber eben in
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