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Troja

Troja

Titel: Troja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisbert Haefs
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Staat schildern sollte. Tatsächlich besserte er lediglich einige Stellen aus, strich und ergänzte, verfremdete Namen und fügte Dinge wieder ein, die er anfänglich getilgt hatte: ägyptische Begriffe vor allem, die er ins Hellenische übertragen hatte; nun gab er die Übertragung von einem Begriff in einen anderen auf und übersetzte statt dessen. »Völker des Meers« hatten die Ägypter jene Horden genannt, die alle Küsten verheerten, bis sie in der letzten Schlacht am Nil vernichtet wurden; Solon hatte zunächst »die von jenseits des Meeres« geschrieben und fand nun die ägyptische Fassung befremdlicher und somit für seine Verschleierung der Wahrheit dienlicher. Troja oder Atlantis, so hatte der alte Priester in Sais gesagt, sei eine Insel gewesen; Solon wußte, daß »Insel« lediglich »abgegrenztes Land« bedeutete und Ägypten selbst ebenso betreffen konnte wie Kreta oder Hellas oder Asien – etwas jenseits des Meeres, das nicht formlos ist, sondern feste Grenzen hat. In der letzten Fassung ersetzte er »Land« wieder durch »Insel« und blähte den angeblichen Herrschaftsbereich der Atlanter ungeheuerlich auf, da ihm die Harmonie der Dinge wichtig war – wenn alles nicht siebentausend Monde, sondern siebentausend Jahre zurücklag, war es angemessen, aus zehntausend Kriegern hunderttausend zu machen und aus hundert Meilen Umfang tausend.
    Das Haus, in dem Solon zweiundachtzigjährig starb, gehörte seinem jüngeren Vetter und guten Freund Dropides. Diesem hinterließ er, was er noch besaß, einschließlich der Rollen. Als Dropides starb, erhielt sein Sohn Kritias alles; er wiederum gab es seinem Ältesten weiter, der Leaides hieß. Dessen Sohn, abermals ein Kritias, Urenkel des Dropides und Urgroßneffe des Solon, wurde mehr als neunzig Jahre alt; er war ein fesselnder Erzähler mit unfehlbarem Gedächtnis, wie man sagte, und besonderer Zuneigung zu leicht befremdenden Wundergeschichten, mit denen er den eigenen Kindern und Enkeln und Urenkeln, aber auch den Nachkommen von Freunden die Nachmittage und Abende füllte. Er war der letzte, der je Solons Rollen vollständig las; die Kunst, sie durch Tonröhren und Wachsdeckel gegen Hitze, Kälte, Trockenheit, Feuchtigkeit und den ständigen Wechsel dieser Zustände zu schützen, war in Athen noch nicht ausreichend bekannt. Unter Kritias’ Augen, in seinen Händen begannen die morschen Blätter aus dem Mark der Papyros-Binsen zu zerfallen.
    Kritias’ Sohn Glaukon hörte die Geschichten, ebenso dessen Tochter Periktione; sie hatte drei Söhne und eine Tochter. Der dritte Sohn war ein besonders aufmerksamer Zuhörer; immer wieder lauschte er den Wundergeschichten, die sein Urgroßvater Kritias erzählte. Später verfocht er die Überlegenheit des Gesprochenen über das Geschriebene; vielleicht, weil er als Kind das gesprochene Wort des Urgroßvaters so sehr genoß, vielleicht auch, weil er selbst ein vollkommenes Gedächtnis hatte und des Geschriebenen nicht bedurfte.
    Er war zehn Jahre alt, als der erzählende Urgroßvater starb. Der dritte Sohn der Periktione, Enkel des Glaukos, Urenkel des Kritias, Ururururenkel des Dropides und Ururururgroßneffe des Solon hieß Platon. Er erfand eine durch Denken gegliederte Welt und ein durch die strenge Abfolge der Wörter gegliedertes Denken. In dem idealen Gemeinwesen, das er später ausheckte, hätte sein Urahn Solon vermutlich Schild und Speer vor dem Amtsraum des Philosophen niedergelegt und dann einen anderen Erdteil aufgesucht. In diesem Gemeinwesen gab es keinen Platz für Dichter und Sänger, es sei denn als staatstreue Erzieher der Jugend.
    Lange vor seinem Tod wollte er der Schau eines idealen Staats noch die Darstellung eines fast vollkommenen Staats anfügen, den es einmal in der goldenen Vergangenheit gegeben habe. Hierzu entsann er sich der wunderbaren Geschichten, die er als Knabe gehört hatte, und der heldenhaften Urahnen der Athener. So machte er sich an die Niederschrift dessen, was sein Gedächtnis bewahrt hatte, und er legte die Geschichte dem erzählenden Urgroßvater Kritias und dessen gleichnamigem Enkel in den Mund. An jener Stelle jedoch, da in der Geschichte die Götter beschlossen, das mächtige Reich der Atlanter zu vernichten, brach er mitten im Satz ab.
    Er schrieb noch zehn Jahre lang weiter, lehrte, lebte; es war weder eine Krankheit noch gar der Tod, was ihm dort die Sprache verschlug. Vielleicht begriff der alte Platon an dieser Stelle, was der junge Platon noch nicht hatte

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