Trojanische Pferde
dann den ganzen Tag zum Arbeiten.
»Ich rufe dich heute Abend an. Wenn du dich einsam fühlst, kannst du mich auch im Büro anrufen.«
Sie hauchte ein »Auf Wiedersehen«, während er die Haustür zuzog.
Lydia saß auf Daniels Sofa und rieb ihre Wange am Kragen seines Bademantels. Dieser Daniel war ein guter Mann mit reinem Herzen, von Leid geschlagen auf eine Weise, die sie berührte. Und er respektierte sie, ja, es hatte den Anschein, er könnte sogar mehr für sie empfinden. Sie fühlte, wie ihr Herz sich ihm öffnen wollte, und musste sich beherrschen. Sie blickte die Treppe hinauf, begann die Stufen zu erklimmen, auf dem Weg zu Elsies Zimmer im Dachgeschoss. Sie wollte sehen, ob sie die alte Seele wieder spüren konnte. Ihre Augen waren feucht.
KAPITEL 5
5. J ULI, LAUFENDES J AHR . R IAD , S AUDI -A RABIEN .
Um neun Uhr morgens betrat Prinz Jassar den Flur zu König Abads Büro. Zwei Mitglieder der Königlichen Garde verbeugten sich, als er an die Tür klopfte. Während er darauf wartete, hineingebeten zu werden, fragte er sich, ob die Männer, die stumm neben ihm standen, wohl je im Traum auf die Idee kämen, dass er manchmal mit dem Gedanken spielte, für einen Tag mit ihnen die Plätze zu tauschen. Es ihnen zu überlassen, die mühseligen Verpflichtungen des Regierungsgeschäfts ins Büro des Königs zu tragen. Und sich selbst den inneren Frieden zu gönnen, den die simple Aufgabe mit sich brachte, für die Dauer einer Zwölfstundenschicht einfach nur strammzustehen. Er hörte ein Murmeln hinter der Tür und öffnete sie.
»Morgen«, sagte König Abad, ohne von seinen Papieren auf dem Schreibtisch aufzusehen. »Du kommst als Erster.«
»Guten Morgen, Abad. Wie geht es dir?«
»Erträglich.«
Jassar kannte das Gefühl. »Vielleicht ist das das Beste, was ein Herrscher in diesen Zeiten erhoffen kann. Selbst wenn er von königlichem Geblüt ist.«
König Abad blickte auf. »Ja, Jassar. Vielleicht.«
Jassar setzte sich auf einen Sessel neben dem Schreibtisch des Königs. Er ordnete sein Gewand und setzte seine Lesebrille auf, dann entnahm er einer seiner Akten fünf fotokopierte Bögen, die er dem König reichte. Jassar war erleichtert, dass die anderen noch nicht eingetroffen waren, und dankbar für einige Momente familiären Friedens. Die beiden Männer arbeiteten zufrieden Seite anSeite. Im Verlauf der nächsten zehn Minuten traf zunächst Kronprinz Abdul ein, dann Prinz Naser, der Ölminister, und schließlich Prinz Hashim, der Außenminister. Sie alle nahmen rund um einen Konferenztisch Platz.
Kaum hatten die anderen sich halbwegs eingerichtet, ergriff Jassar schon das Wort, bestrebt, alles lästige Vorgeplänkel rasch hinter sich zu lassen. Eine weitere Beichte stand an, das Eingeständnis seiner Unfähigkeit, die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen. Seine Verwandten und Regierungskollegen sahen ihn erwartungsvoll an.
Er stöhnte innerlich auf. »Mit größtem Bedauern muss ich euch von unserem fortwährenden Scheitern berichten.« Jassar sah allen Anwesenden abwechselnd in die Augen, entschlossen, sich der Verantwortung, die er empfand, nicht zu entziehen. »Hätten wir doch nur recht gehabt im Jahre 1973.« Die anderen wandten die Augen ab. Alle außer König Abad.
»Das war nicht deine Schuld«, sagte Abad sanft.
»Vielleicht«, nickte Jassar, spürte aber dennoch einen schmerzlichen Stich hinter den Augen. »Dennoch, hätte das OPEC-Ölembargo von 1973, wie die Amerikaner es nennen, die gewünschte Wirkung gehabt, würden wir heute …«
»Nicht ›in diesem Schlamassel stecken‹, wie die Amerikaner sagen«, fiel ihm Prinz Naser, der Ölminister, ins Wort.
»Ja«, fuhr Jassar fort. »Wenn wir Mitglieder der OPEC, die wir fast vierzig Prozent der Ölreserven auf der Welt besitzen, nicht einmal als Gruppe in der Lage waren, den Ölpreis auf dem Weltmarkt hochzuhalten, wie sollen wir es dann anstellen, unsere heimische Wirtschaft aus eigener Kraft aufrechtzuerhalten?«
Niemand antwortete.
Er bereute es, die Frage, die ihn selbst immer wieder beschäftigte, in den Raum gestellt zu haben, denn er wollte nicht den Eindruck erwecken, er würde nach Entschuldigungen suchen. »Kommen wir also zu meinem Bericht. Zunächst mal ein bisschen Statistik.« Den Kopf gesenkt, zitierte Jassar aus dem Gedächtnis, als könnte er, indem er nicht in seine Unterlagen blickte, seinenAugen das Brennen der Scham ersparen. Vergebliche Mühe – die Fakten waren in seine Seele eingebrannt. »Wir
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