Trojaspiel
war ein Arzt, der zufällig nüchtern war. Und so geschah es, daß die Kotusova an diesem frischen Herbstmorgen doch noch gerettet und ins Krankenhaus gebracht wurde.
Das blaue Auge Sonjas, ihr entblößter Zustand, und die Erfahrung der Ärzte legten nahe, daß die Hebamme einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war.
Die Fahne der Dame irritierte die Ärzte nicht, als sie die weitläufige Landkarte älterer und neuerer Prellungen und Blutergüsse auf dem glänzenden Leib der Bewußtlosen in Augenschein nahmen. Als jedoch die Kotusova, während sie gedreht und betastet, von gleichmütigen Augen untersucht und mit Stethoskop und Reflexhammer traktiert wurde, schließlich einen Rülpser hören ließ, mit dem man das ganze Krankenzimmer hätte reinigen können, wurde den Experten klar, daß der eigentliche Grund für ihre Ohnmacht und das nervöse Ballett von Herz- und Pulssignalen eine Ammoniakvergiftung sein mußte. Ein heimtückischer Giftanschlag vermutlich, der die verwirrte Frau nach Hilfe suchend auf die Straße getrieben hatte. Der Verdacht fiel, nachdem eine Krankenschwester die Hebamme identifiziert hatte, die Adresse bestimmt war und zwei Polizisten die Wohnung des Opfers aufgesucht hatten, sofort auf den Ehemann. Herr Kotusov war den Beamten nicht gerade unbekannt. Als Protagonist einer ganzen Reihe glanzvoller Kneipenschlägereien besaß er einen ungünstigen Ruf. Er war ein gewalttätiger Mensch. Die geöffnete Giftflasche stand noch in Reichweite seiner Hände. Der Ehemann, der auf Nachfrage seine verschwundene Ehefrau in die Hölle wünschte – denn kein Geist trübte sein Auge –, ließ auch die sich in ihrem Anfangsverdacht nun bestätigt fühlenden Polizisten noch seine Fäuste schmecken. Zuletzt jedoch wurde er abgeführt, und schon in Kürze wollte man diesem Schurken den Prozeß machen.
Hinter der alten Freihafenstraße, die das Moldavanka-Viertel vom Zentrum der Stadt trennte, begann das respektable Odessa. Die meisten Bürger, die jenseits dieser Grenze wohnten, kannten das als Ganovennest verschrieene Quarantäneviertel der Armut nur aus den Berichten der Zeitungen und Revolverblätter. Und wer sich für ein Amüsement in die Gassen dieses tollwütigen Bezirks begab, das die Diebe zärtlich ihre ›kleine Stadt‹ nannten, war deswegen fast enttäuscht, wenn er nicht ausgeplündert mit zerschlagener Nase oder wenigstens einer ansteckenden Krankheit versehen in sein großzügiges Appartement im Zentrum der Stadt zurückkehrte, in dem es elektrisches Licht, ein Badezimmer und vielleicht sogar ein Telefon gab.
Die Diebe und Räuber jedoch waren stolz darauf, an einem Ort zu leben, den man im ganzen Zarenreich und sogar in Europa kannte. Denn die Untaten der erfolgreichsten Vertreter ihrer Zunft fanden auch Eingang in die Kriminaljournale von St. Petersburg und Moskau. Und selbst in Paris und Nizza, wo der russische Adel gegen das Zurschaustellen fröhlicher Kosakenmanieren ein wenig Lebensart einhandelte, erkannte man, daß die gerissensten Betrüger, die gewieftesten Juwelendiebe und die charmantesten Hochstapler ihre Ausbildung in der ›kleinen Stadt‹ erhalten hatten.
Für anständige Bürger war das sündige Viertel ein düsteres, gefährliches Märchenland: Der propere Junggeselle etwa, von dem man in der Zeitung gelesen hatte und dessen Vater ein unverschämt reicher Weizenhändler griechischer Abstammung war, betrachtete seinen staubigen Hut, der auf dem seidenen Polster eines Louis-seize-Stuhles ruhte, und im Wasserdunst des Bades, das ihn von allen verbliebenen Krusten des Elends reinigen sollte, stiegen noch einmal die unglaublichsten Bilder der Moldavanka auf.
Starrende Augen, die seinen Weg verfolgt hatten. In jedem dunklen Hauseingang lauerte hämisches Verderben. Kinder, die ihm ihre schmutzigen Hände entgegenreckten und an seinen Hosenbeinen zerrten. Sie lachten ihn mit ihren gelblichen Augen aus und waren auf einen Pfiff hin um die nächste Ecke verschwunden. Der Geruch der Straßen war nicht weniger betäubend als ein Schlag auf den Kopf. Der blasse junge Herr, der noch am Morgen eine erfrischende Rasur erhalten hatte, bei Monsieur Mugrotte in der Katharinenstraße, einem Barbier, in dessen holzgetäfelten und marmorgedeckten Salon es nach Vetiverwurzel und Amber duftete, ging über ungepflasterte Straßen, die von einer Haut aus Kot bedeckt waren, auf der sich ohne Frage die Krankheitskeime entwickelten, die einmal für den
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