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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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Untergang der Welt verantwortlich sein würden. Auf der Rasumovskistraße brüllte man ihm Unzüchtigkeiten ins Ohr. Weiter ging es durch das Lumpengewimmel des Flohmarktes am Prochorovskajaplatz, mit seinen Karren, Ständen, einfachen Kisten und Fässern, an denen Handel getrieben wurde, wo Männer mit knotigen Gelenken und Frauen mit gesprungenen Lippen ihm stinkende Fischköpfe unter die Nase hielten und sich Fliegen an ungesund schimmerndem Fleisch drängten. Dieses entsetzliche Zerrbild der Welt war aufdringlich und unerbittlich. Er hörte das betrunkene Kreischen eines Mädchens, das in einen Winkel gezerrt wurde, das affenhafte Gelächter eines Mannes, der eine Treppe hinuntergefallen war. Und dann, an der Straßenecke Kolontajevstraße und Masterskaja kurz hinter dem Dreiecksplatz, alles sah hier eigentlich friedlich aus, es gab gepflegte Auslagen und Firmennamen in goldenen Lettern an blitzsauberen Schaufenstern, hatten drei Halbwüchsige eine Katze mit Kerosin in Brand gesteckt. Ein kleines, sauberes Café, in dem es gestärkte Tischdecken und sogar Servietten gab, erschien ihm als Rettung aus einer Höllenfahrt. Er wagte aus plötzlichem Heldenmut, etwas zu bestellen, und der gebackene Fisch und die gefüllten Teigtaschen, sie hatten sogar köstlich geschmeckt.
       Später, gestärkt auf der Straße, trat ein wunderschönes Mädchen in einem niedlichen blauen Sommerkleid auf ihn zu. Sie bot ihm eine Flasche Portwein an, Konterbande, der Preis war lächerlich. Er kaufte den Alkohol und zog sich beschwingt zurück über die Grenze, beschloß dabei, seine Freunde mit phantastischen Erzählungen vor der Gefahr eines solchen Ausfluges zu warnen, und machte im darauffolgenden Monat einen weiteren Besuch in der Moldavanka, von dem er nicht zurückkehrte.
       Die alte Freihafenstraße, die sich durch den strammen Bauch der Stadt schnitt und ihren bleichen Rumpf von einem lustigen Unterleib trennte, war einmal Zollgrenze gewesen. Die Räuber aber behaupteten, daß der Schlagbaum noch immer dort war und daß derjenige, der die vornehme Innenstadt verließ, um in der Moldavanka eine Safari zu erleben, auch sein Wegegeld entrichten müsse. Warum sollten die Waren, die man einst über die Tiraspoler und die Chersoner Straße transportiert hatte, ein anderes Schicksal haben als der Grenzgänger? Wer über die unsichtbare Linie treten wollte, der mußte sein Leben verzollen.
      
       Es brummte und summte im Odessa des gerade zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts. Die Stadt, von Katharina der Großen gegründet und kaum hundert Jahre alt, wuchs schneller als jede andere Kapitale des Zarenreiches. Wirtschaft und Handel konzentrierten sich hier, viel Geld wurde verdient und ausgegeben. Odessa, das Tor zum Westen, zeigte sich in seiner Atmosphäre, seiner Mode und in den unabhängigen Launen seiner Bürger Paris und Madrid näher als Petersburg und Moskau.
       Die Odessiten führten ihren Reichtum ohne Scham vor, und die Neider im sumpfigen Petersburg oder im gemütlichen Moskau erhoben zuweilen ihre mahnenden Stimmen, denn diese glamouröse Metropole, sie kam ihnen zutiefst unrussisch vor. Und tatsächlich, es waren nicht die Russen, die dort den Ton angaben. Erfolg und Reichtum stellten sich hauptsächlich bei den Zugereisten ein. Ob griechische Kaufleute oder deutsche Fabrikanten, ob italienische Börsenhaie oder englische Schlotbarone, französische Bankiers oder belgische Großinvestoren, alle häuften sie riesige Vermögen an in jener manchen Russen nicht mehr geheuren Stadt.
       Glücksritter und Spekulanten schwirrten heran wie die Fliegen, auch kleine Handwerker und Kaufleute, genauso wie der hungrige Arbeiter und der glücklose Bauer, der mit seiner Schwester, seiner Großmutter und einer blinden Katze gekommen war, um die goldenen Türme Babels zu erklimmen. Nicht weniger als fünfzig verschiedene Sprachen wurden in Odessa gesprochen.
       Aber warum sollte gerade unter der Geldgier dieses merkantilen Ameisenhaufens die erste europäische Stadt des Ostens entstehen? In Petersburg gab man sich doch viel intellektueller, unter der nahen Knute des Zaren, aufgeschlossen für moderne Ideen, auch wenn es nicht einmal erlaubt war, eine Nelke im Knopfloch zu tragen.
       Die Odessiten zeigten, weitab von der Regierung in Petersburg, nicht viel Respekt für Mütterchen Rußland. Eine vaterländische Partei und die loyalistische Schwarze Hand wollten vor Ort zwar die Russifizierung des frivolen Schmelztiegels von

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