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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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       Der Rabbiner dachte jedoch an ein viel apokalyptischeres Szenario. Das Schaben und Kratzen, das da von unterhalb des Bettes kam, das waren keine Ratten, keine Katzen und keine Eichhörnchen: Es war die Erde selbst, die sich auftat, um diese Szene menschlichen Leidens und greisenhafter Hilflosigkeit von der Erde zu tilgen. Er hatte versagt, wieder einmal, und nun würde der Teufel seinen Rachen aufsperren und sich die Sünderin und den müden Greis schmecken lassen. Dergleichen hatte es schon gegeben, die Katakomben unter der Stadt, die Kalksteinhöhlen, aus denen das Baumaterial für die Häuser gewonnen worden war, sie sanken ein, wenn ein Vater sein Kind schlug, der Bräutigam die Schwiegermutter verhöhnte oder ein Ehemann bei einer Hure lag, und holten sich alles zurück. Es war eine Strafe, keine Frage, und jetzt würde es auch ihn erwischen. Birnbaum glaubte herausgefunden zu haben, weshalb er noch nicht hilferufend auf der Straße stand. Dies war keine Prüfung, sondern bereits das Ende, der Zahltag. Er würde mitsamt dem Elend dieser Kammer in den Boden einsinken und das morsche Haus über ihm zusammenbrechen und ihn begraben. Er nahm die Hand des Mädchens und schloß ernst die Augen. Man hätte ihm jetzt glühende Lanzen durch den Leib treiben können – er hatte beschlossen, in Würde zu sterben, und das hieß klaglos. Sogar ein wenig erleichtert war er, daß jetzt alles ein Ende finden würde – nichts hätte er gespürt, gar nichts, und auch das Poltern unter dem Bett, das seinen Untergang ankündigte, ließ ihn unempfindlich.
       Dann aber fühlte er, wie die Hand eines Zwergen oder Kobolds seinen großen Zeh untersuchte, der mit einem Male – gerade zur rechten Zeit – all seine sensiblen Nerven wieder in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Und Birnbaum erschauderte.
       »Rabäh«, krähte der Zwerg und streichelte verträumt über die restlichen Zehen des Rabbiners, die an diesem so schmerzensreichen Tag über solche Zärtlichkeit ganz verwundert waren. Und Birnbaum, der die Elastizität früherer Jahre im Bruchteil einer Sekunde zurückgewonnen hatte, begriff, als er den Kobold, der sich in staubigen Handtüchern versteckt hatte und von den schleichenden und krabbelnden, nagenden und blutsaugenden Bewohnern des Hauses Gott sei Dank noch nicht versehrt worden war, weshalb er so lange untätig auf der Bettkante hatte sitzen müssen. »Allmechtiger!«, murmelte der Rabbi verlegen. Er murmelte es noch ein zweites Mal, und der Kobold antwortete: »Rabäh! Rabäh!«
      
       Sonja Kotusova aber, die schon eine ganze Armee von Zwergen in diese Nachbarschaft entlassen hatte, wo entweder ein frühzeitiger Tod oder ein entbehrungsreiches Leben, das ungerechterweise ebenfalls mit dem Tod endete, warteten, war selbst noch nie einem Menschen zur Last gefallen. Und an diesen Grundsatz hielt sie sich auch, als sie am frühen Morgen desselben Tages, nur mit einem Unterrock bekleidet, die blonden Haare gelöst, rücklings im Schmutz der Stummstraße lag, wie ein vergnügter Engel, der zuviel gegessen und getrunken hatte und deswegen ausgerechnet über dem schäbigsten Viertel der Stadt abstürzen mußte.
       Der erste, der das auf der Erde verunglückte Wesen entdeckte, war ein Hund. Das Tier – obwohl es in einer gewissen Beziehung zu dem Knaben Icko stand, denn er war der einzige in der Gegend, der es gelegentlich aus Langeweile mit Knochen und Brotrinden versorgte – war ohne besondere Absichten in die Stummstraße gekommen und freute sich daher, schon zu so früher Stunde einem Menschen zu begegnen, der nicht weniger einsam war als es selbst.
       Die verwirrende Vielzahl von Aromen beschreiben zu wollen, welche die neugierige Hundenase an der halbnackten, staubbedeckten Frau wahrzunehmen begann, wäre ganz aussichtslos, aber da sich an ihrem noch schwach bebendem Dekolleté auch etwas von dem Geruch des geliebten Icko fand (der Umschlag mit dem Rubelschein), und da dieser Hinweis in den Augen des Hundes nur bedeuten konnte, daß sein einziger Freund entweder in der Nähe war oder mit ihm vielleicht wie mit der nicht sehr gesprächigen Dame etwas ganz Entsetzliches passiert sein müsse, fügte er den zahlreichen Düften der Frau, ein Bein hebend, seinen eigenen hinzu und setzte sich dann unentschlossen neben sie, um aus tiefster Hundeseele zu jaulen.
       Einer der Bürger, die Fenster aufrissen und mit faulen Kartoffeln und zersprungenen Nachttöpfen auf das klagende Tier zielten,

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